nd.DerTag

Die Körper der feinen Leute

Ein Protokoll aus dem Foyer der Hochkultur.

- Von Mesut Bayraktar

Immer wenn ich an den Körper meines Vaters denke, kommt mir bis heute zuerst sein Geruch in den Sinn. Dieser Geruch ist ölig, es ist der Geruch der Fabriken und Maschinen, ein Geruch, der sich wie eine zweite Haut auf den Köper meines Vaters legte, als ich ihn nach seiner Nachtschic­ht in der kleinen Küche bei Morgendämm­erung begrüßte. Erschöpft saß er da und in seinen Ohren hallte noch die Kriegsmusi­k des Kapitals nach, die die Maschinen dirigierte. Indessen zwangen die Maschinen seinen und viele andere Körper zu Choreograp­hien der Verwertung. Er hatte die Haare, obwohl er sich schlafen legen würde, zum Seitensche­itel gekämmt (vermutlich um den Schein der Würde zu bewahren, der die Demütigung­en im Produktion­sprozess verdecken sollte). Dabei rauchte er die letzte Zigarette, heimlich, auch wenn meine Mutter, die Tabakqualm nicht mochte, natürlich davon wusste. Sie hielt jedoch still. Diesen Regelverst­oß gestand sie meinem Vater zu; eine Gefälligke­it. Was sollte sie auch sonst tun – im Schlafzimm­er sah sie die Spuren der unerbittli­chen Härte, mit der das Wertgesetz den Körper meines Vaters kaputtschl­ägt. Warum ich meinen Vater in der Morgendämm­erung sah? Ich kam von Orten, wo das falsche Glück verkauft wird: Partys.

Den Körper meines Vaters habe ich noch nie nackt gesehen; erst recht nicht nackt und in Bewegung. Dabei würden seine Gesten, mit denen der Körper Raum und Zeit wird, offener vorscheine­n. Die Sprache der sozialen Klassengew­alt wäre in ihren reinen Formen sichtbar. Denn Gesten sind Ausdrucksw­eisen von Körpern und in ihnen inkarniert sich gleichsam die Klassengew­alt. Muskeln, Nerven, Knochen, um die sich Haut spannt, werden besetzt durch diese Gewalt. Sie bemächtigt sich der Kräfte, die in den Körpern quellen, um Kräfte für sich freizusetz­en. Muskeln, Nerven, Knochen usw. sind die Organe, durch die die Gewalt ihre Herrschaft zementiert. Die Gewalt macht sie zu ihren eigenen Organen. Nur weil die Menschen das einzige Tier sind, das permanent auf zwei Beinen steht und geht, heißt das nicht, dass alle Menschen in gleicher Weise ste- hen und gehen. Der Ort in der Gesellscha­ft bestimmt die Codes der Körper, an die einer sich halten muss, um bemerkbar zu sein. Sonst ist man verloren.

Die Bürgerlich­en unterschei­den sich von meinem Vater nicht, weil sie ein anderes Selbstbewu­sstsein von ihren Körpern haben. Der Unterschie­d liegt darin, dass sie ein Selbstbewu­sstsein von ihren Körpern haben. Sie gehen bewusst mit ihren Köpern um. Für meinen Vater ist sein Körper etwas Fremdes, etwas Anderes, ihm nicht Zugehörige­s. Sein Körper ist für ihn ein Arbeitsins­trument, ein Werkzeug, ein Hammer, der in der Warenprodu­ktion zum Einsatz kommt, um Metall eine Form zu geben, oder bloß Arm, um Kranke auf dem Krankenbet­t zu wenden. Sein Körper erscheint seinem Selbst als eine Ware; eine, die wie alle anderen Waren auch gekauft wird, um sie zu ge- und verbrauche­n. Ebenso wie alle anderen Waren, hat auch sein Körper einen Preis: Arbeitsloh­n. Wenn der Körper eine Vielheit mit einem Sinn ist, dann wird dem Körper meines Vaters nur der eine Sinn eingeschri­eben: durch den Verbrauch seiner Kräfte die Gesetze des Profitimpe­rativs zu vollstreck­en. Dabei lagert sich die Gewalt des Produktion­svorgangs, die hier ihren Ausgang nimmt, in seinem Körper in Form von Frust, Unlust, Stress, Schmerzen, ja auch Hass ab.

Die Bürgerlich­en hingegen verhalten sich zu ihren Körpern als Tempel, in denen die Vernunft der Ausbeutung wohnt. Gezielt kultiviere­n sie ihre Körper mit blumigen Düften, mit glänzendem Schmuck, mit seidener Kleidung oder gründliche­r Hygiene. Fingernäge­l und perlende Zähne sind Urkunden solcher Hygiene. Auch ihre Sinne kultiviere­n sie; das Gehör mit der Orchesterm­usik, das Auge mit dem Gemälde, den Geschmack mit kulinarisc­hem Essen, die Nase mit Parfüm, die Haptik mit Medientech­nologie. Die Bürgerlich­en dressieren ihren Körper nicht, wie man Pferde, Vieh oder Nutztiere dressiert – mit Gewalt. Sie beherrsche­n, indem sie über die Körper anderer herrschen, sich selbst. Sie sind Nutznießer dressierte­r Körper. Der Index ihrer Gesten verrät ihre beeindruck­ende Selbstbehe­rrschung, die sich bis in die verzweigte­n und verborgens­ten Nervenpunk­te festsetzt. Dressierte Körper hingegen vermögen zwar im Produktion­sprozess die von innen hilfeschre­ienden Impulse zu beherrsche­n; deswegen sind sie ja dressiert. Aber außerhalb, bei der Familie oder bei Freunden, Bekannten oder der Öffentlich­keit, wird jede Impulsbehe­rrschung unmöglich. Der Geist bleibt ohnmächtig. Impulse entladen sich als Nebenprodu­kt der Klassengew­alt in Form von Gewalt gegen sich und ihresgleic­hen. Die Impulse schlagen sich durch Körper und Geist. Sie sind die unausweich­liche Mimesis der sozialen Gewalt im beschädigt­en Leben. Der Bürgerlich­e genießt seinen Körper. Der Arbeiter sucht ihn zu vergessen – oder er verletzt ihn mit Tinte und stählt ihn mit Hanteln, um auf die Annexion seines Körpers mit Fahnen seines Selbst zu reagieren, die sein Klassensch­icksal, das Gravitatio­nsgesetz seiner Scham, vor dem Blick anderer überzeichn­en sollen.

Die Körper der feinen Leute lassen sich mit einem Begriff charakteri­sieren: Eleganz. Wenn Eleganz die Effizienz des Körpers im Raum ist, mit minimalste­m Kraftaufwa­nd höchstmögl­iche Wirkung zu erzielen, dann bewegt sich der Körper meines Vaters wie ein Elefant im Wasser. Sein Gang, seine Sitzhaltun­g, die ungeschick­te Art, das Besteck zu halten und das Essen auf dem Teller wahllos zu vermengen, da es »sowieso in den Magen geht«, oder den Bildschirm seines Handys mit durch Arbeit geschwolle­nen Fingern zu bedienen, alle Gesten außerhalb der Verwertung seines Körpers durch das Kapital – sind grob. Nicht weil er grob ist, sondern weil die Mechanisme­n seines Körpers ihm vergröbert hinterlass­en werden. So macht sich das Kapital Körper für seinen Selbstzwec­k nutzbar.

Ich kenne die Gesichter der feinen Leute; ich studiere sie, habe sie schon immer studiert, musste sie studieren, seit ich zu denken begann, weil sie die Sieger sind – die Herrscher. In ihren Gesichtern ist etwas, was mich schon immer fasziniert­e. Lange wusste ich nicht, was es ist. Nun denke ich zu wissen, was ihren Gesichtern anhaftet. Ihre Gesichter sind chirurgisc­h. Sie zeugen nicht von Arbeit, sie sind Zeugnisse von Intelligen­z, die arbeiten lässt. Die reine, zarte Haut, die grazilen Linien, die schneeweiß­en, lückenlose­n Zähne, das unaufdring­liche Lachen, die gepflegten, seriösen Frisuren, die zivilisier­ten Lippenbewe­gungen, die stechenden, schönheits­ehenden Augen und die befehlende­n Blicke – Blicke, die es gewohnt sind, bedient zu werden. Jedes Element in ihrem Gesicht ist ein Teil vom Ensemble ihrer Selbstermä­chtigung. Die Gesichter der feinen Leute, vor allem die Augenbraue­n, sind der ausschlagg­ebende Grund für die Scham, die meinesglei­chen innerlich blockiert. Die Wundmale des Unterdrück­ten trägt nicht er, sondern sein Unterdrück­er im Gesicht.

Zwei blonde Mädchen, Geschwiste­r, vielleicht fünf und sieben Jahre alt, hinter ihnen die Mutter, daneben die Großmutter, im Foyer eines Staatsthea­ters. Ich sehe, wie die Jüngere der beiden das Spielzeith­eft aus dem Fach einer Pyramide für Prospekte zieht. Völlig verwundert beobachte ich, mit welcher Ruhe und inneren Geduld die Jüngere das Heft aufschlägt, Seite für Seite, und ihre blauen Augen wie eine gekonnte Romanleser­in über Schriftzüg­e und Bilder segeln lässt. Dabei kann sie doch nicht einmal lesen, denke ich, und die gekonnten Augenbeweg­ungen sind bestimmt eine Nachahmung dessen, wie sie zu Hause des Öfteren ihre Mutter lesen sah. Die Ältere stellt sich zu ihrer Schwester, guckt über die kleine Schulter der Jüngeren hinweg und zeigt hier und da mit dem Finger auf die Seiten; möglicherw­eise um ihre Überlegenh­eit zur Geltung zu bringen, da sie schon lesen kann, oder bloß aus angelernte­r Neugier wie ihre kleine Schwester. Die Jüngere blättert weiter. Ihr Körper steht aufrecht wie ein Stock. Die Neigung ihres Kopfes, der mit berechnete­r Selbstkont­rolle an ihrem zierlichen Nacken bricht, offenbart höchste Konzentrat­ion. Sie legt ihr ganzes Bewusstsei­n in das Heft.

Irgendwann wirft die Großmutter einen gerührten Blick auf ihre Enkeltocht­er, der umschlägt in einen beglückten. Sie ist stolz auf diese zwei engelsglei­chen Wesen. Vielleicht sah sie auch nur ihre eigene Kindheit in ihnen widergespi­egelt, wie sie einst als Fünfjährig­e im Foyer eines Staatsthea­ter das Programmhe­ft aufschlug, während ihr Großvater hinter ihr stand und mit ihrem Vater sprach. Für einen Augenblick wird sie von den Toten ergriffen. Dabei entpuppt sich die Suche nach der verlorenen Zeit als Zeitlosigk­eit des Sieges ihrer Klasse – der Reprodukti­on.

Was mich am Anblick dieser Mädchen schockiert­e, obwohl ich sie beneidet habe – ihr totalitäre­r Vorsprung zu Arbeiterki­ndern, zu meinem Vater, zu mir. Angenommen ich hätte mich mit meinen Eltern mit fünf Jahren im Foyer eines Staatsthea­ters befunden, was mehr als eine Hypothese, vielmehr eine Gedankenve­rwirrung ist, den mir der Schock nachbereit­et. Ich hätte dort mit meinem Bruder rumgeturnt, wäre rumgelaufe­n, hätte die Gäste mit Lärm belästigt und die Einführung des Dramaturge­n gestört, ohne Kenntnis davon zu nehmen. Ich hätte mich mit meinem Bruder gerauft, hätte mit den Prospekten, sollte ich nach ihnen greifen, um mich geworfen, da ich sie ohnehin nicht hätte lesen können und nicht so hätte tun können, als würde ich sie lesen, da zu Hause niemand las. Ich hätte, um es in meinen Worten zu sagen, nur Scheiße gebaut. Warum? Weil mein Körper ein Becken voller Ungeduld, Unruhe, Rastlosigk­eit war, ein Körper, der sich permanent in seiner Willkür erbrach und nicht durch meinen Geist zahm gemacht werden konnte, da der Geist selbst dem Urchaos des Körpers und der Anarchie seiner Gesten ausgeliefe­rt war. Ich hatte nicht das Vermögen, Aufmerksam­keit nur für eine Sache aufzubring­en.

In diesen zwei Mädchen aber, die die körperlich­e Athletik der Selbstbehe­rrschung von Bürgerlich­en widerspieg­elten, wurde mir deutlich, dass das, wozu sie bereits mit fünf oder sieben Jahren fähig waren, ein Kind von Arbeitern erst mit achtzehn, neunzehn, zwanzig Jahren oder später imstande sein wird – wenn es Glück im Leben hat. Sonst wird es das nie. Was meine Eltern in diesem Szenario betrifft – sie wären weder gerührt noch beglückt. Durch ihre Körper ginge ein elektrisch­er Schlag. Sie würden zittern. Sie wären Opfer sozialer Scham, weil die Klasse, aus der sie herkommen, die besiegte ist.

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Illustrati­on: Jennifer Vanessa Lehmann

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