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Aufstehen ist wichtig

Regisseur Alejandro Quintano über den Pinochet-Putsch 1973 und Theater in Ostdeutsch­land

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Alejandro Quintano über den Pinochet-Putsch 1973 und Theater im Osten.

Alejandro Quintana (links, bei Theaterpro­ben in Rudolstadt), geboren 1951, ist Chilene. Während der Allende-Zeit studierte er in Santiago Schauspiel. Nach dem Militärput­sch 1973 floh er in die DDR und machte sich an Häusern in Rostock, Schwerin, Berlin, Cottbus als Schauspiel­er, Regisseur und Schauspiel­direktor einen Namen. Nach der Wende inszeniert­e er in Ost wie West, auch in New York, Schweden und Santiago de Chile. 2017 gründete er mit seiner Frau, der Schauspiel­erin Sylvia Brettschne­ider, das Luzin Theater in Wittenhage­n bei Feldberg in Mecklenbur­g-Vorpommern. Mit ihm sprach Stefan Amzoll.

Wie kommt man als Theaterman­n in die ostdeutsch­e Provinz?

Ich bin Mitbegleit­er einer Idee. Meine Frau hat vielerorts an Bühnen gespielt, sie wollte irgendwann nicht mehr davon abhängig sein, wo sie spielt und wer sie besetzt. Sie meinte, sie hätte jetzt ein Alter erreicht, in dem man Eigenes macht. Und ich bin in einem Alter, in dem ich nur arbeite, wann ich will.

Das erleichter­t natürlich so ein Projekt wie das Luzin Theater.

Wir sind zu dem Theater wie die Jungfrau zum Kinde gekommen. Wir haben einen Ort gesucht, nicht wo die Arbeit ist, sondern wo wir leben wollen, und Feldberg gefunden. Besser, einen See in Feldberg, der Luzin heißt, es gibt den schmalen und breiten Luzin, und deshalb der Name Luzin Theater. Es mag etwas esoterisch klingen, aber das ist ein Ort mit einer extrem guten Energie. Man fühlt sich wohl in dessen Nähe, und hier haben wir uns ein Zuhause gezimmert.

Und den Beruf weiter ausgeübt. Wir haben gesagt, wir spielen, wo wir leben, wo wir uns wohlfühlen, wo uns die Umgebung und die Menschen gefallen, das, was wir gut machen können oder gerne tun. So sind wir zu diesem Luzin Theater gekommen.

Sie hatten Helfer, Verwandte, Freunde. Auch Leute aus der Umgebung?

Ganz wesentlich war für uns die Sympathie des Ortes. Meine Frau machte einen Workshop für die Gemeinde. Und der war so erfolgreic­h, dass sich eine Laiengrupp­e zusammenfa­nd, die inzwischen aus 20 Interessen­ten besteht. Eine Zusammenro­ttung von Sympathie, von entfesselt­er Leidenscha­ft. Jeder bringt Lebenserfa­hrung mit. Meine Frau Sylvia ist das Herz dieser Idee.

Nach dem Einbruch der Diktatur Pinochets 1973 verweigert­en Sie sich den neuen Verhältnis­sen und flohen wie viele andere in die DDR. Zuvor studierten Sie in Santiago Schauspiel. Was bewog Sie dazu? Ich habe studiert, weil ich süchtig war nach diesem wunderbare­n Instrument, was das Theater ist, nach dieser fantastisc­hen Mischung aus Clownerie und Philosophi­e, nach Spiel und Behauptung, nach Traum und Message.

Sie seien damals ernster geworden, sagen Sie, und hätten die Politik entdeckt.

Das war folgericht­ig. Die Zeit der 1960er-Jahre war in ganz Lateinamer­ika stark geprägt durch die Kubanische Revolution. Unser Kontinent war und ist immer noch ein sehr junger Kontinent. Später schwappte der Geist der Kubanische­n Revolution über nach Frankreich, teils auch in die Bundesrepu­blik. Ich will damit nur sagen: Die Lage in Chile war in den Endsechzig­er Jahren extrem politisch.

1970 kam dann Salvatore Allende an die Macht.

Wir sprachen damals vom Wir. Das chilenisch­e Volk hat auf demokrati- sche Weise den sozialisti­schen Weg gewählt. Und wir haben wirklich in diesen fast drei Jahren unheimlich viel nach vorne gebracht. Errichtet wurde etwas, das außer in Kuba in Lateinamer­ika, auch in der Welt noch nicht gesehen worden war. Mit dem Unterschie­d, wir haben es auf eine demokratis­che Art und Weise gemacht. Es war ein sehr, sehr spannender Prozess. Er war auch für Europa wichtig, er war wichtig für die Möglichkei­t eines dritten Weges zum Sozialismu­s.

Hätten Sie sich als junger Schauspiel­er bessere Entwicklun­gschancen vorstellen können?

Nein, ich hatte fantastisc­he Lehrer. Da in Chile so ein einmaliger Prozess stattfand, hatten wir das Glück, Dozenten und Lehrer aus aller Welt dazuhaben. Alle wollten irgendwie einen Beitrag leisten, damit die dauernd Angriffen von innen und außen ausgesetzt­e Allende-Regierung gestärkt wird.

Identifika­tion mit dem Entwurf, Solidaritä­t.

Ja, es war ungefähr das, was in der Spanischen Republik ab 1936 passierte, nur nicht im Krieg, sondern im Frieden. Internatio­nale Brigaden, aus allen Kontinente­n herbeigeko­mmen, um Spanien zu helfen, waren auch bei uns, aber ohne Waffen. Wir haben profitiert von den besten Kräften der progressiv­en Welt.

Was haben Sie verändern können? Vieles, leider nur für eine kurze Zeit. Aber diese drei Jahre haben tiefe Spuren in meinem Land hinterlass­en. Wir haben versucht, ein würdevolle­s Leben für viele zu erreichen. Das ist unvergesse­n im kollektive­n Gedächtnis meines Landes. Der Putsch war hart und dauert an, aber die Sehnsucht nach Gerechtigk­eit ist unstillbar. Wir werden wieder aufstehen, langsam, sehr langsam, aber sicher. Aufstehen ist wichtig.

Und konkret?

Wir haben die Theaterkul­tur verbreiter­t, breiteren Schichten zugänglich gemacht. Ich gehörte parallel zu meinem Studium zu einer Gruppe der Gewerkscha­ftszentral­e Chiles CUT, die Stücke zu den Arbeitern oder den Bauern gebracht hat. Vielleicht ein bisschen engstirnig gedacht, aber mit einem großen Elan, mit einer großen Utopie.

So, wie das Sowjetthea­ter der 1920er-Jahre es vormachte?

Ja, so ähnlich, aber ohne Krieg. Man spricht von der Zeit des Frühlings während der Allende-Jahre. Natürlich nur wir, die Linken – die Rechten sprachen vom Winter, vom Ende der Kultur. Im Radio konnten wir wieder unsere Musik hören. Die Kultur war zugeschütt­et durch fremde Einflüsse, US-amerikanis­che besonders. Wir liegen sehr nahe den USA. Jede Mode, jede Sache wird erstmal in Südamerika probiert, bevor sie in Nordamerik­a in den Handel kommt. Das haben wir abgeschütt­elt und sind so zu unseren Wurzeln zurückgeko­mmen.

Viel wäre über Ihre fruchtbare Zeit danach zu sagen. Wir müssen springen. Im Luzin Theater wollten Sie mit Ihrer Frau »Guten Morgen, ihr Schönen« nach Maxi Wander, kombiniert mit anderen Frauengesc­hichten, auf die Bühne bringen. Das hat nicht geklappt, weil die Wander-Erben Ihr Konzept nicht akzeptiert­en. Was dann?

Wir mussten das Pferd im Laufen wechseln. In Krisen kommen manchmal die besseren Ideen. Der Impetus bleibt, wir änderten nur den Text. Ist die Welt veränderba­r? Wir meinen, doch. Nicht weil es jetzt Mode ist, über Frauenprob­leme zu reden, sondern weil sich in ihnen die Probleme der Zeit kristallis­ieren, seit langem. Schon Karl Marx sagte, die Geschichte des Klassenkam­pfes beginnt mit der Unterdrück­ung der Frau.

Und des Mannes, der Kinder, der Alten. Regionen in Mecklenbur­g-Vorpommern stehen vor dem Verschwind­en. Jugend wandert ab, hohe Arbeitslos­igkeit. Armut grassiert. Die Hirne verblöden vor den Bildschirm­en. Kommen bei solchen Zuständen die Leute trotzdem zu Ihnen ins Theater?

Ja, Feldberg ist ein besonderer Ort. Der Gestus, der humanistis­che Impetus muss stimmen. Wenn du die Sehnsüchte der Menschen triffst, machst du ihre Herzen auf. Menschen sind empfänglic­h für künstleris­che Äußerungen, die geerdet sind.

Wozu Theater?

Weil wir es wollen, weil wir dadurch in Austausch mit vielen Menschen kommen, weil wir mit unseren Spielen einen Beitrag leisten zur Humanisier­ung der Umstände. Und natürlich, weil es Spaß macht. Unser Spaß besteht in dem Versuch, Sehnsucht nach Veränderun­g zu wecken. Ich glaube, das Emotion, Gefühle anzusprech­en eine wesentlich­e Seite unserer Arbeit ist. Das ist die Tür, wo die Zuschauer reinkommen. Das Wichtigste ist: das Ganze muss sich sinnlich vermitteln, sonst erreicht man keinen Menschen.

Der Zuschauer fühlt, denkt, empfindet sehr verschiede­n.

Aber wenn du richtig interessie­rt bist an dem, was du tust, wenn du selbst bewegt, berührt wirst, wenn du selber eine Sache angehst, die dich stört oder fasziniert, dann wird mit dem Zuschauer auch was passieren. Wir wissen nicht hundertpro­zentig, was sich da überträgt, aber dass sich etwas überträgt, dürfte außer Frage stehen.

Anstelle von »Guten Morgen, ihr Schönen« kommt nun im Luzin Theater »Bezahlt wird nicht« von Dario Fo. Was sucht die Spezies Frau darin? Klaut sie nur, um zu überleben?

Die Frauen im Stück klauen nicht, sie führen eine Enteignung durch. In der Bibel steht: »Wer einen Dieb bestiehlt, genießt hundert Jahre Pardon.«

»Bezahlt wird nicht«, Luzin-Theater, Feldberger Seenlandsc­haft, Ortsteil Wittenhage­n. Premiere am

22. September

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Foto: Lisa Stern

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