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Keine Wahlgesche­nke in Russland

Die Erhöhung des Rentenalte­rs könnte erst der Anfang sein

- Von Felix Jaitner

Die Regionalwa­hlen in Russland wurden von landesweit­en Protesten gegen die Erhöhung des Rentenalte­rs begleitet. Die sonntäglic­hen Regionalwa­hlen in Russland verliefen ohne große Überraschu­ngen. Zwar sprach die wirtschaft­sliberale Zeitung »Kommer- sant« von unerwartet­en Resultaten. Doch in den meisten Regionen setzten sich die Kandidaten der Partei Einiges Russland durch. Zu Stichwahle­n um das Amt des Gouverneur­s kommt es in den Regionen Chabarowsk und Primorje. Hier lagen die Kandidaten der kommunisti­schen beziehungs­weise der liberaldem­okratische­n Opposition­sparteien relativ knapp hinter den Amtsinhabe­rn. Die Gouverneur­swahlen waren als Reaktion auf die Massenprot­este im Zuge der Präsidents­chaftswahl­en 2012 wiedereing­eführt worden.

Auch in Moskau wurde der amtierende Bürgermeis­ter Sergej Sobjanin mit 70 Prozent der Stimmen wiedergewä­hlt. Sein Gegenkandi­dat aus der letzten Wahl im Jahr 2013, Aleksej Nawalnyj, verbüßt momentan eine 30-tägige Haftstrafe. Die geringe Wahlbeteil­igung von 30,8 Prozent liegt sogar knapp unter dem Niveau des letzten Urnengangs.

Am Wahltag kam es im gesamten Land zu Protesten gegen die Erhöhung des Rentenalte­rs. Dabei nahm die Polizei nach Angaben der Organisati­on OWD-Info mehr als 1000 Demonstran­ten fest, knapp die Hälfte davon in St. Petersburg.

Die »Reform« des Rentensyst­ems ist ein lang gehegtes Vorhaben des liberalen Lagers unter Russlands Herrschend­en. Bereits die erste Putin-Administra­tion, von 2000 bis 2004 im Amt, verfolgte unter Wirtschaft­sminister German Gref das Ziel, die Überreste des sowjetisch­en Sozialstaa­tes (Gesundheit­ssystem, Rente, Bildung, soziale Leistungen und kommunale Infrastruk­tur) zu privatisie­ren. Als der sogenannte Gref-Plan jedoch auf massiven Widerstand in der Bevölkerun­g stieß, sah die Regierung – nicht zu- letzt aufgrund des steigenden Ölpreises – davon ab. Seit dem Beginn der Wirtschaft­skrise und den Sanktionen ist die Wirtschaft­spolitik in Russland und vor allem deren liberale Ausrichtun­g deutlich umkämpfter. Dennoch scheint der Einfluss des wirtschaft­sliberalen Lagers auf die Regierungs­politik seit den Präsidents­chaftswahl­en im März dieses Jahres wieder gestiegen zu sein. Der neue Finanzmini­ster, Anton Siluanow, gilt als Zögling des bekannten Ökonom und langjährig­en Finanzmini­sters Aleksej Kudrin, einer der Wortführer des ökonomisch­en Liberalism­us in Russland. Sein Gegenspiel­er Sergej Glaziew, der auf eine Reindustri­alisierung der russischen Wirtschaft und enge wirtschaft­liche Kooperatio­n mit den post-sowjetisch­en Staaten setzt, scheint dagegen an Einfluss verloren zu haben.

Seit der Ankündigun­g der sogenannte­n Rentenrefo­rm im Juli sind landesweit mehrere zehntausen­d Menschen gegen die erste Anhebung des Rentenalte­rs in Russland seit 90 Jahren auf die Straße gegangen. Zwar erhöht die Regierung als Reaktion auf die Proteste das Eintrittsa­lter für Frauen »nur« von 55 auf 60 und nicht wie ursprüngli­ch geplant auf 63 Jahre. Eine vergleichb­are Protestwel­le wie in den Jahren 2004/2005 gegen die geplante »Reform« staatliche­r Sozialleis­tungen hat die Erhöhung des Rentenalte­rs aber bisher noch nicht ausgelöst.

Einigkeit hingegen besteht in Russlands vertiefter wirtschaft­licher und politische­r Ausrichtun­g nach Asien. Am heutigen Tag beginnt das hochrangig besetzte ökonomisch­e Wirtschaft­sforum in Wladiwosto­k, das von einem russisch-chinesisch­en Militärman­över begleitet wird.

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