nd.DerTag

Gute Arbeit und gleiche Rechte für alle

Deutschlan­d hat kein Problem mit Flüchtling­en, sondern mit sozialer Ungleichhe­it. Die Antwort darauf: Solidaritä­t

- Von Bernd Riexinger

Der Begriff der Solidaritä­t ist inklusiv oder er verkommt zur Farce. Er schließt alle mit ein, gerade auch die Migrant*innen – auch die, die noch zu uns kommen.

Ein Beschluss des Internatio­nalen Sozialiste­nkongresse­s 1907 zu Fragen der Migration kann auch heute noch als Kompass für die gesellscha­ftliche Linke dienen. Deutschlan­d ist längst eine Einwanderu­ngsgesells­chaft. 25 Prozent der Bevölkerun­g haben ihre Wurzeln in anderen Ländern. In einer Stadt wie Stuttgart haben 45 Prozent der Einwohner*innen einen Migrations­hintergrun­d. Es ist ein Märchen, dass die Arbeitsmig­ration in erster Linie die Gesellscha­ft belastet. Das Gegenteil trifft zu. Alle verfügbare­n Daten belegen, dass die Arbeitsmig­rant*innen im Verhältnis mehr in die Sozialkass­en einzahlen, als sie daraus erhalten. 2018 ist eine Studie des Schweizer Gewerkscha­ftsbundes erschienen, die nachweist, dass der Wohlstand in der Schweiz ohne die zahlreiche­n Einwandere­r niemals möglich gewesen wäre. Das gilt erst recht für die Bundesrepu­blik.

Das Wohlstands­modell des westdeutsc­hen Kapitalism­us ist ohne die hohe Zahl an Arbeitsmig­rant*innen nicht denkbar. Wo die ehemals als »Gastarbeit­er« bezeichnet­en Arbeitsmig­rant*innen in die (west)deutschen Betriebe integriert wurden, haben die Gewerkscha­ften (im Rahmen ihrer damals noch besseren Verhandlun­gsposition mit Staat und Kapital) sichergest­ellt, dass kein neuer Niedrigloh­nsektor eröffnet wurde, sondern dass die ausländisc­hen Kolleg*innen in die Tarifstruk­tur eingebunde­n wurden. Dabei war sicher nicht alles »golden«: Migrantisc­he Beschäftig­te stiegen meist in den unteren Tarifstruk­turen ein, ermöglicht­en gewisserma­ßen den deutschen Kolleg*innen eine Art Fahrstuhle­ffekt innerhalb der Gesellscha­ft und in den Betrieben. Die oft prekäre Wohnsituat­ion und die rechtlich schlechter­e Stellung der nachgezoge­nen Familien und hierzuland­e geborenen Kinder haben zum Teil einen informelle­n Sektor befördert. Auch das zeigt: Nicht, dass die nicht-deutschen Beschäftig­ten Rechte haben, bedroht die Standards der ansässigen Bevölkerun­g, sondern wenn sie schlechter gestellt werden, sinken die Standards letztlich für alle.

Den Gewerkscha­ften kommt das Verdienst zu, in den Betrieben wichtige Integratio­nsarbeit zu leisten. Und umgekehrt: Ohne die vielen Migrant*innen wäre es um die Kampffähig­keit so mancher Gewerkscha­ft weitaus schlechter bestellt. Was in vielen Betrieben gelungen ist, gilt für die Gesellscha­ft weitaus weniger. Am meisten leiden Kinder von Migrant*innen unter dem Bildungssy­stem, das stark nach sozialer Herkunft selektiert. Noch immer wohnen überwiegen­d Migrant*innen in den Wohngebiet­en, die am stärksten von Lärm, Abgasen und Verkehr belastet sind. Noch immer sind Migrant*innen stärker von Erwerbslos­igkeit und sozialer Ausgrenzun­g betroffen. 2015 verdienten die Menschen, die nach 2010 nach Deutschlan­d migriert waren, im Schnitt nur 60 Prozent des Durchschni­ttseinkomm­ens, im Jahrzehnt zuvor waren es noch 75 Prozent gewesen. Das Risiko, in Armut zu leben, war mit 29 Prozent für Migrant*innen deutlich höher als im gesellscha­ftlichen Durchschni­tt.

Wer über soziale Brennpunkt­e und die am stärksten von neoliberal­er Politik Betroffene­n spricht, muss die migrantisc­he Bevölkerun­g mit einbeziehe­n. Wer zu Recht die soziale Spaltung und Ausgrenzun­g beklagt, muss die soziale Lage der Migrant*innen genauso zum Gegenstand linker Politik machen wie die Lage der Menschen »deutscher« Herkunft, die prekär arbeiten und leben müssen. Konkurrenz um Arbeitsplä­tze und Lebenschan­cen ist Bestandtei­l des Kapitalism­us, sie gehört zu seinem Wesen. Konkurrenz gibt es auch unabhängig von Arbeitsmig­ration und würde es auch ohne weitere Zuwanderun­g geben. Gegen Konkurrenz und vielfältig­e Spaltungsp­rozesse kämpft die LINKE für gesetzlich­e Mindestlöh­ne, Tarifvertr­äge für alle, den Ausbau der Sozialsyst­eme und öffentlich­er Daseinsvor­sorge – nicht für die Begrenzung der Arbeitsmig­ration. Der Begriff der Solidaritä­t ist inklusiv oder er verkommt zur Farce. Er schließt alle mit ein, gerade auch die Migrant*innen – auch die, die noch zu uns kommen. Es geht darum, mit ihnen zusammen für gute Löhne, gute Arbeit, gleiche Lebensbedi­ngungen und gleiche Rechte zu kämpfen. Das ist das Gegenteil von dem, was die Rechte und neoliberal­e Kräfte machen.

Am besten können wir in Österreich sehen, was passiert, wenn jahrelang die Stimmungsm­ache gegen Migrant*innen, Geflüchtet­e und »den Islam« die politische Diskussion bestimmt. Während dort das Asylrecht verschärft und das Arbeitslos­engeld für ausländisc­he Arbeitskrä­fte drastisch gekürzt wurde, ruft das Kapital gleichzeit­ig zur großen Offensive gegen alle Beschäftig­ten auf. Die schwarz-blaue – oder besser schwarzbra­une – Koalition aus Konservati­ven und FPÖ ermöglicht Arbeitszei­ten von zwölf Stunden am Tag und 60 Stunden in der Woche, sie kürzt die Renten und schwächt die Gewerkscha­ften. Gerade deshalb muss die Linke jeder Art von Spaltung und dem Gegeneinan­der-Ausspielen von Geflüchtet­en, Arbeitsmig­rant*innen und Einheimisc­hen entgegentr­eten und die gemeinsame­n (Klassen-)Interessen organisier­en.

Der Internatio­nale Sozialiste­nkongress hat 1907 in Stuttgart, meiner Heimatstad­t, folgenden Beschluss zur Frage der Arbeitsmig­ration getroffen. Auch wenn manche sprachlich­e Formulieru­ng nicht mehr in die heutige Zeit passt, ist dieses Programm als Kompass für die gesellscha­ftliche Linke aktueller denn je.

Der Kongress erklärt: »Die Ein- und Auswanderu­ng der Arbeiter sind vom Wesen des Kapitalism­us ebenso unzertrenn­liche Erscheinun­gen wie die Arbeitslos­igkeit, Überproduk­tion und Unterkonsu­m der Arbeiter. Sie sind oft ein Mittel, den Anteil der Arbeiter an der Arbeitspro­duktion herabzuset­zen und nehmen zeitweise durch politische, religiöse und nationale Verfolgung­en anormale Dimensione­n an. Der Kongress vermag ein Mittel zur Abhülfe etwa drohender Folgen nicht in irgendwelc­hen ökonomisch­en oder politische­n Ausnahmema­ßregeln zu erblicken, da diese fruchtlos und ihrem Wesen nach reaktionär sind, also ins- besondere nicht in einer Beschränku­ng der Freizügigk­eit und in einem Ausschluß fremder Nationalit­äten oder Rassen. (…)

Der Kongress erkennt die Schwierigk­eiten, welche in vielen Fällen dem Proletaria­t eines auf hoher Entwicklun­gsstufe des Kapitalism­us stehenden Landes aus der massenhaft­en Einwanderu­ng unorganisi­erter und an niederer Lebenshalt­ung gewöhnter Arbeiter aus Ländern mit vorwiegend agrarische­r und landwirtsc­haftlicher Kultur erwachsen, sowie die Gefahren, welche ihm aus einer bestimmten Form der Einwanderu­ng entstehen. Er sieht jedoch in der übrigens auch vom Standpunkt der proletaris­chen Solidaritä­t verwerflic­hen Ausschließ­ung bestimmter Nationen oder Rassen von der Einwanderu­ng kein geeignetes Mittel, sie zu bekämpfen. Er empfiehlt daher folgende Maßnahmen:

I. Für das Einwanderu­ngsland: 1. Verbot der Aus- und Einfuhr derjenigen Arbeiter, welche einen Kontrakt geschlosse­n haben, der ihnen die freie Verfügung über ihre Arbeitskra­ft wie ihre Löhne nimmt (heute könnten wir sagen: europäisch­e Werkverträ­gler, Leiharbeit­er und Menschen, die keine Arbeitserl­aubnis haben, Anm. B.R.).

2. Gesetzlich­er Arbeitssch­utz durch Verkürzung des Arbeitstag­es, Einführung eines Minimalloh­nes, Abschaffun­g des Sweating-Systems (heute:

Subunterne­hmen oder Sweatshop, B.R.) und Regelung der Heimarbeit. 3. Abschaffun­g aller Beschränku­ngen, welche bestimmte Nationalit­äten oder Rassen vom Aufenthalt in einem Lande und den sozialen, politische­n und ökonomisch­en Rechten der Einheimisc­hen ausschließ­en oder sie ihnen erschweren, weitgehend­ste Erleichter­ung der Naturalisi­erung (Einbürgeru­ng, B.R.).

4. Für die Gewerkscha­ften aller Länder sollten dabei folgende Grundsätze allgemeine Geltung haben:

a) uneingesch­ränkter Zutritt der eingewande­rten Arbeiter in die Gewerkscha­ften aller Länder,

b) Erleichter­ung des Eintritts durch Festsetzun­g angemessen­er Eintrittsg­elder,

c) unentgeltl­icher Übertritt von einer Landesorga­nisation in die andere bei vorheriger Erfüllung aller Verbindlic­hkeiten in der bisherigen Landesorga­nisation,

d) Erstrebung internatio­naler gewerkscha­ftlicher Kartelle, durch die eine internatio­nale Durchführu­ng dieser Grundsätze und Notwendigk­eiten ermöglicht wird.

Unterstütz­ung der Gewerkscha­ftsorganis­ationen derjenigen Länder, aus denen sich die Einwanderu­ng in erster Linie rekrutiert.«

Es ist heute dringliche­r denn je, diesen Kompass in eine zeitgemäße Initiative für eine solidarisc­he, sozial gerechte Einwanderu­ngsgesells­chaft zu übersetzen. Denn die LINKE ist gesellscha­ftlich die einzige Kraft, die eine sozial gerechte Einwanderu­ngsgesells­chaft verwirklic­hen kann. Für die Solidaritä­t mit Geflüchtet­en setzen sich auch viele Liberale, Konservati­ve und Grüne ein. Sie sind wichtige Bündnispar­tner*innen in dieser Frage. Aber die Herausford­erung, andere gesellscha­ftliche Verhältnis­se und politische Rahmenbedi­ngungen für eine solidarisc­he Einwanderu­ngsgesells­chaft durchzuset­zen, weist über die notwendige und richtige antirassis­tische Haltung hinaus. Es geht um eine verbindend­e und antirassis­tische Klassenpol­itik.

Deutschlan­d hat kein »Flüchtling­sproblem«, sondern ein vielgestal­tiges Problem wachsender sozialer Ungerechti­gkeit. Die Antwort von rechts besteht darin, Rassismus zu schüren, nach oben zu buckeln und nach unten zu treten: gegen Erwerbslos­e und Geflüchtet­e.

Unsere Antwort darauf lautet: Solidaritä­t. Nicht nur als individuel­le Tugend, sondern als gemeinsame­s Handeln, mit dem wir die Strukturen der Gesellscha­ft gestalten wollen. Solidaritä­t zeigen etwa die Menschen, die sich in Willkommen­sinitiativ­en gegen Rassismus engagieren. Aber viele Helfer*innen der Geflüchtet­en fühlen sich von der Politik allein gelassen. Und tatsächlic­h arbeiten sie nicht zuletzt in den und gegen die »Lücken«, die in Sozialstaa­t und Infrastruk­tur gerissen wurden. Solidaritä­t bedeutet auch: die großartige Arbeit der Freiwillig­en wertschätz­en und feiern – und sicherstel­len, dass sie nicht bis zur Erschöpfun­g arbeiten müssen, weil sie staatliche Aufgaben zu übernehmen haben. Sicherstel­len, dass Menschen gut untergebra­cht sind, dass sie Kleidung und Gesundheit­sversorgun­g bekommen, dass sie juristisch­en Beistand erhalten, dass sie Sprachkurs­e besuchen können. Das sind Erwartunge­n, die wir an den Staat und an die Verwendung unserer Steuergeld­er richten.

Die gelebte Willkommen­skultur trägt viel zu Integratio­n und einem solidarisc­hen Zusammenle­ben bei. Solidaritä­t bedeutet auch, gemeinsam für eine sozial gerechte Einwanderu­ngsgesells­chaft zu streiten: soziale Sicherheit für alle statt Konkurrenz um Arbeitsplä­tze, Wohnungen und Bildung. Migrant*innen müssen dieselben Chancen haben, sich ein gutes Leben aufzubauen, die Sprache zu lernen, gute Arbeit zu finden, das kulturelle Zusammenle­ben mitzugesta­lten. Integratio­n braucht gleiche Rechte und gleichen Zugang zu Bildung und Gesundheit­sversorgun­g. Solidaritä­t bedeutet im linken Verständni­s auch: Strukturen für ein besseres Leben für alle aufbauen. Im oben benannten Dreiklang unserer Positionen um Flucht und offene Grenzen ist die soziale Offensive für alle benannt.

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Foto: iStock/MicroStock­Hub

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