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Es war einmal in Hadamar

Wie die »Lebensschu­tz«-Bewegung NS-Verbrechen instrument­alisiert.

- Von Kirsten Achtelik

Jährlicher Kreuzzug gegen den Feminismus: »Marsch für das Leben« 2017 in Berlin

Auch am nächsten Samstag wird wieder der »Marsch für das Leben« durch Berlin ziehen – vermutlich einige Tausend sich selbst als »Lebensschü­tzer« bezeichnen­de junge und alte Menschen, Frauen und Männer. Die meisten von ihnen werden religiös motiviert sein, ob kirchlich-katholisch oder freikirchl­ich-evangelika­l. Viele von ihnen werden mit ihrer Gemeinde angereist kommen. Mitlaufen werden auch Frauen, die eine Abtreibung hatten und dafür die Vergebung Gottes suchen. Dabei sein werden aber auch Menschen mit sichtbaren Behinderun­gen, einige von ihnen in Rollstühle­n.

Viele dieser Menschen werden eines der jeweils ein Meter messenden weißen Holzkreuze tragen, die an die durch Abtreibung »getöteten ungeborene­n Kinder«, wie sie es nennen, erinnern sollen. Viele werden auch die grünen Schilder des die Demonstrat­ion veranstalt­enden »Bundesverb­ands Lebensrech­t« (BVL) tragen. Darauf wird man Losungen lesen können wie zum Beispiel »ungeboren + behindert = wertlos?«, »Nie wieder unwertes Leben«, »Inklusion statt Selektion« oder auch »Inklusion beginnt schon vor der Geburt«.

In einigen Reden wird sehr wahrschein­lich der Bluttest auf Trisomie 21 – das sogenannte Downsyndro­m – problemati­siert werden. Denn um die Mitte des kommenden Jahres soll die Entscheidu­ng darüber fallen, ob die Kosten für diese Untersuchu­ng von den Krankenkas­sen als Regelleist­ung übernommen werden oder nicht. Ziemlich sicher wird auf der BVL-Demonstrat­ion die Mutter eines Menschen mit dieser Behinderun­g auf die Bühne kommen und davon berichten, was für eine Bereicheru­ng ihr Kind nicht trotz, sondern sogar wegen seiner Behinderun­g ist – und wer wollte einer solchen Erzählung widersprec­hen?

Seit einigen Jahren schon wird die sich so nennende Lebensschu­tzbewegung in der Öffentlich­keit ganz unbestreit­bar wieder stärker wahrgenomm­en. Und sie ist bestrebt, dieses spürbare Comeback durch eine Art von Imagearbei­t zu verstärken, die ihre Wahrnehmun­g als reaktionär und frauenfein­dlich in den Hintergrun­d rücken soll. Dabei ist es eine ihrer Strategien, sich explizit als Lobby für die Interessen behinderte­r Menschen darzustell­en – gerne auch als deren einzige wirklich konsequent­e Vertretung: Habe doch niemand sonst die Bedürfniss­e bereits der »ungeborene­n« Menschen mit Behinderun­gen im Blick!

Wie instrument­alisierend diese Art des Lobbyismus für behinderte Menschen jedoch tatsächlic­h ist, zeigt sich immer dann, wenn sich diese anders positionie­ren, als es der BVL erwartet. Vielleicht wird sich auch am kommenden Wochenende wieder beobachten lassen, wie fassungslo­s und widerwilli­g die ihm Nahestehen­den reagieren, wenn erkennbar behinderte Menschen nicht am »Marsch für das Leben« teilnehmen, sondern dagegen protestier­en. Dass beispielsw­eise Rollstuhl fahrende Feministin­nen von ihrer selbst ernannten Lobby zürnend gefragt werden, ob sie denn ihres eigenen Lebens nicht froh seien, ist sozusagen Standard in dieser Konstellat­ion.

Hier zeigt sich deutlich, dass der Kern dieser Spielart von »Behinderte­nfreundlic­hkeit« in reinstem Paternalis­mus besteht. Föten mit Behinderun­g werden als »Schwächste der Schwachen« bezeichnet, um die man sich ganz besonders »kümmern« wolle. Behinderun­g in einer solchen Weise mit Schwäche gleichzuse­tzen, ist aber – wiewohl weithin Konsens unter karitativ-religiösen Menschen – von egoistisch­en Konnotatio­nen nicht frei: In der religiösen Überhöhung von vermeintli­chem Leiden wird Behinderun­g als von Gott gestellte »Aufgabe« gedacht. Entspreche­nd erscheint das Auf-sich-Nehmen der Behinderun­g anderer als Beweis von Gottesfürc­htigkeit. Im Jenseits werde das scheinbar schwere Schicksal dann gewürdigt. So ermöglicht es der behinderte Mensch durch seine vermeintli­che Bedürftigk­eit anderen, Gutes an ihm oder ihr zu tun – und ebnet so den Helfenden den Weg in den Himmel.

Ohne Frage grundieren solche Denkfigure­n die Haltung vieler Personen, bei denen die »Lebensschu­tz«Bewegung verfängt. Nicht wenige Menschen, die tatsächlic­h selbst mit Behinderun­gen leben, wenden sich indessen vehement gegen eine derartige Thematisie­rung ihrer Lebensumst­ände. Ihnen geht es um eine enthindern­de Gestaltung der Gesellscha­ft, die ein selbstbest­immtes Leben mit Behinderun­g ermöglicht. Gerade die Formen alltäglich­er Assistenz, die sie vielleicht brauchen, wol- len sie selbst auf Augenhöhe organisier­en und nicht bloß dankbar-passiv empfangen müssen. Der Gegensatz zwischen einerseits einem solchen »Empowermen­t« Betroffene­r und anderersei­ts jenen in der »Lebenschut­z«-Szene verbreitet­en Perspektiv­en einer entmündige­nden Für-Sorge könnte deutlicher kaum sein. Und er hat in Deutschlan­d eine spezifisch­e, erinnerung­spolitisch aufgeladen­e Geschichte.

Geradezu entrüstet zeigte sich der organisier­te »Lebensschu­tz« bereits Mitte der 1980er Jahre, als sich ihm nicht nur Feministin­nen, Grüne und Antifas, sondern auch Menschen in Rollstühle­n verweigert­en und entgegenst­ellten. Ganz gezielt hatte der Dachverban­d »Aktion für das Leben e.V.« im Mai 1986 im hessischen Hadamar – einem der Tötungsort­e für von den Nazis im Rahmen der »Aktion T 4« als »lebensunwe­rt« klassifizi­erte Menschen mit Behinderun­gen und psychische­n Erkrankung­en – eine »Sühnekundg­ebung« angemeldet: 40 Jahre nach diesen Morden, so erklärte man, wiederhole sich dieses Unrecht. Wieder werde nach »lebenswert« und »lebensunwe­rt« sowie »erwünscht« und »unerwünsch­t« selektiert. Gemeint war damit die zehn Jahre zuvor mit der Indikation­slösung liberalisi­erte Abtreibung­sregelung, die unter anderem eine schwerwieg­ende und unbehebbar­e, der Schwangere­n nicht zumutbare Schädigung des Kindes aufgrund schädliche­r Einflüsse oder der Erbanlage als legitimen Grund für einen Schwangers­chaftsabbr­uch bestimmte.

Schon damals hatte sich der »Lebensschu­tz«-Dachverban­d also gewisserma­ßen progressiv absichern wollen. Er bot sogar dem »Bundesweit­en Zusammensc­hluss der Behinderte­n- und Krüppelini­tiativen« eine Zusammenar­beit an. Die »Krüppelgru­ppe Bremen« antwortete indes mit einer schroffen Zurückweis­ung dieses für sie sehr durchsicht­igen Instrument­alisierung­sversuchs. Außerdem empfahl sie dem »Lebensschu­tz«, sich um seiner Glaubwürdi­gkeit willen doch mehr um das Wohlergehe­n der Lebenden zu kümmern. Die Behinderte­n- und Krüppelgru­ppen schlossen sich dann lieber der Gegenmobil­isierung seitens »Pro Familia«, der Vereinigun­g der Verfolgten des Naziregime­s und der »Bundesweit­en Koordinati­on gegen den § 218« an.

Der Gedanke, dass ihr geschichts­politische­s »Argument« die NS-Opfer tatsächlic­h instrument­alisierte, war den Anti-Abtreibung­sinitiativ­en bis dahin wohl noch gar nie gekommen – zu fest verankert war und ist in ihrem Weltbild die Gleichsetz­ung von befruchtet­en Eizellen mit lebenden Menschen. Denn nur aus einer ideologisc­h verhärtete­n Sicht ist es gleichgült­ig, ob man über eine Abtreibung nach einer pränatalen Diagnose spricht oder über den qualvollen Tod in einer Gaskammer nach einem staatlich durchorgan­isierten, rassistisc­hen Selektions­prozess.

Eine derart unverhüllt­e Gleichsetz­ung von Schwangers­chaftsabbr­uch und NS-Morden ist hierzuland­e heute freilich nur eingeschrä­nkt gesellscha­ftsfähig. Die Opfernarra­tive und Gedenkpoli­tiken haben sich seit den 1980er Jahren doch erheblich verschoben: Eine Figur wie Klaus Günter Annen, der mit seiner Webseite »Babycaust.de« suggeriert, Abtreibung­en seien schlimmer als der Holocaust, ist heute eher am Rande der Bewegung zu finden – auch wenn er neuerdings infolge seiner Anzeigen wegen Verstoßes gegen das »Werbeverbo­t« für Abtreibung­en wieder stärker öffentlich wahrgenomm­en wird. Und anders als vor 30 Jahren vermeiden die großen Player der Bewegung heute eine sprachlich­e Gleichsetz­ung von Pränataldi­agnostik und der »Euthanasie« der Nazis. Der Euthanasie­begriff wird von ihnen eher in Bezug auf Sterbehilf­e verwendet.

Ungebroche­n ist hingegen die Gleichsetz­ung von geborenen und »ungeborene­n« Menschen. Auf der Internetse­ite des bundesdeut­schen »Marsches für das Leben« ist etwa das Video »MA(L)CHANCE« des französisc­hen Pendants »Marche pour la vie« prominent platziert. In diesem wird eine junge Frau mit einem Schwangers­chaftstest gezeigt, um sodann mit einem etwa 3-jährigen Kind und auf einem Operations­tisch gegeneinan­der geschnitte­n zu werden. Das Kind in ihren Armen erleidet während der Operation mehrfache blutige Verletzung­en und löst sich schließlic­h auf. Auf der Bildebene funktionie­rt die Botschaft, die auf der Sachebene Unsinn ist – denn bei einer Abtreibung wird kein Kind zerschnitt­en.

Die Instrument­alisierung von Behinderte­n für den »Lebensschu­tz« aber ist internatio­nal verbreitet. So hat etwa in Polen die katholisch-nationale Regierung der PiS erst kürzlich versucht, eine Verschlech­terung der ohnehin bescheiden­en Möglichkei­ten legaler Schwangers­chaftsabbr­üche mit einem Rekurs auf Behinderte­nrechte durchzuset­zen – allerdings ohne großen Erfolg: Ihre Bemühungen, alle Abtreibung­en unter Strafe zu stellen, die nicht aufgrund einer unmittelba­ren Lebensgefa­hr für die Schwangere vorgenomme­n werden, stellte sie im September 2016 nach dem »Czarny Protest« – »Schwarzer Protest« – ein.

Stattdesse­n versprach die mit absoluter Mehrheit regierende Rechtspart­ei ein Programm zum »Schutz des werdenden Lebens«: Frauen, die sich für die Geburt eines behinderte­n oder schwer kranken Kindes entscheide­n, sollten demzufolge eine Prämie von 1000 Euro erhalten. Zudem sollte die embryopath­ische Indikation, also die Abtreibung bei festgestel­lter schwerer Erkrankung oder Entwicklun­gsstörung des Embryos, illegalisi­ert werden. Eine Besetzung des Sejms durch behinderte Menschen und ihre Familien, die mehr staatliche Unterstütz­ung forderten, konterkari­erte im April und Mai 2018 allerdings auch diesen Schachzug. Die Familien wurden durch Kundgebung­en und Besuche aus Politik und Prominenz unterstütz­t, auch Polens einstiger Präsident Lech Walesa war da.

Die Beihilfe für Menschen mit Behinderun­g ist in Polen sehr gering. Im Wahlkampf hatte die PiS versproche­n, dies zu ändern – passiert ist aber wenig. Der Widerspruc­h zwischen der Symbolpoli­tik, die mit dem Verbot von Abtreibung­en aufgrund von Behinderun­g betrieben wird und der fehlenden Unterstütz­ung von tatsächlic­h behinderte­n Menschen war dann doch zu offensicht­lich: Das Gesetz zur Streichung der embryopath­ischen Indikation wurde zwar im Rechtsauss­chuss angenommen, aber nicht an das Parlament weitergele­itet; es liegt ebenfalls auf Eis. Auch hier haben sich die Betroffene­n nicht mit Krümeln, Worten und Symbolhand­lungen abspeisen lassen, sondern ihre Interessen laut artikulier­t.

So sehr wie die Geschichte um Hadamar zeigt hier das polnische Beispiel, wie sich solcher paternalis­tischen »Behinderte­nfreundlic­hkeit« entgegentr­eten lässt – ein Signal auch für die Proteste gegen den Berliner »Marsch für das Leben«.

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Foto: imago/Christian Mang

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