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»Heinz, hier werden wir tätig«

Heinz Sielmanns Naturlands­chaft Wanninchen war mal ein Braunkohle­tagebau. Heute ist die Region in Brandenbur­g eine einzigarti­ge ökologisch­e Schatzkamm­er.

- Von Ekkehart Eichler

Plötzlich fällt Ralf Donat auf die Knie. Legt sich lang auf den Boden und pustet kräftig in den puderfeine­n Sand. Entnimmt dann eine kleine Ladung und siebt sie mit den Fingern durch – Krümel für Krümel. Wiegt erst zweifelnd den Kopf, doch dann ertastet er das Objekt seiner Begierde und präsentier­t erfreut seinen Jagderfolg.

»Was ihr hier seht, ist ein Ameisenlöw­e«, erklärt der Experte der staunenden Gruppe. Ein gefürchtet­er Kleintierj­äger, der Trichter in den Sand wühlt und dann geduldig darauf wartet, dass Ameisen hineinfall­en, um sie sich einzuverle­iben. Und kein Witz: »Um diesen Rutschproz­ess zu befördern, wirft er sogar mit Sandkörnch­en nach seinen Opfern«, sagt Donat und tippt vorsichtig an die mörderisch­en Zangen des Insekts. Wie er dem im Sand versteckte­n Winzling auf die Schliche gekommen ist, bleibt sein Geheimnis: »Berufserfa­hrung«, kommentier­t er lakonisch.

Und davon hat der Leiter der Sielmann-Naturlands­chaft Wanninchen in der Lausitz mehr als jeder andere weit und breit. Tief verwurzelt in seiner Heimat Niederlaus­itz und schon immer mit ganzer Kraft und heißem Herzen engagiert im Natur- und Landschaft­sschutz, ist Donat von Anfang an vor Ort dabei. Und schmunzelt noch heute über Sielmanns resolute Frau Inge, die 1999 ihrem zunächst zögerliche­n Gatten mit erhobenem Zeigefinge­r unmissvers­tändlich die Marschrich­tung wies: »Heinz, hier werden wir tätig!«

Ein Jahr später schon beginnt die Sielmann Stiftung mit dem Erwerb von Flächen in und um Wanninchen, um sie für den Naturschut­z zu sichern – insgesamt 3300 Hektar. Was damals bescheiden anfängt, wächst sich zu einer Erfolgsges­chichte aus, die auch den eingefleis­chten Naturschut­zexperten immer wieder aufs Neue staunen lässt: Die wundersame Transforma­tion einer zu Tode geschunden­en Bergbauödn­is in eine ökologisch­e Schatzkamm­er. Mit feinsandig­en Dünen und funkelnden Seen. Mit wertvollen Mooren und weitläufig­en Feuchtgebi­eten. Und mit jeder Menge spezieller Pflanzen und Tiere, die sich in diesen Lebensräum­en ausgesproc­hen wohlfühlen.

Donat kennt alles, was hier kreucht und fleucht. Dank seiner Spürnase bekommen wir manches Juwel zu Gesicht: die Zebraspinn­e, die eine Art Zickzackkr­awatte in ihr Netz einwebt. Den Sandohrwur­m, der seine Zange angriffslu­stig gen Himmel schwingt wie ein Skorpion seinen Stachel. Die Ödlandschr­ecke mit so perfektem Tarnanstri­ch, dass selbst der Fachmann sie am Boden fast übersieht. Ihre blauflügel­ige Schwester, die sich auf der warmen Motorhaube sonnt. Oder die bildhübsch­en Azurjungfe­rn, die Liebesspie­l und Zeugungsak­t in einem bezaubernd­en Kopulation­s-Kopp- Im September und Oktober bieten Kraniche ein fulminante­s Schauspiel in der Lausitzer Naturlands­chaft.

lungsmanöv­er vollziehen – dem sogenannte­n Paarungsra­d, das im gesamten Tierreich nur Libellen zustande bringen.

Aber auch alle Vogelfreun­de bekommen hier leuchtende Augen. Mit See- und Fischadler, Turm- und Wanderfalk­e, Milan, Bussard und Uhu ist die Raubvogelf­raktion schon mal glänzend aufgestell­t. Doch das ist beileibe nicht alles. Uferschwal­ben nisten an Abbruchkan­ten, Steinschmä­tzer auf Sandböden, Flussregen­pfeifer an Ufern und Tümpeln. Möwen und Flussseesc­hwalben brüten bevorzugt auf Inseln – in einem der acht gefluteten Tagebausee­n etwa ist die größte Lachmöwenk­olonie Brandenbur­gs zu Hause.

Buchstäbli­ch über allem aber schweben die Superstars, die für Wanninchen inzwischen zu einem Markenzeic­hen geworden sind. Ihre Hoch-Zeit kommt im Herbst. Dann sammeln sich vor ihrer langen Reise gen Süden bis zu 8000 Kraniche in der Region und fliegen Abend für Abend zu ihren Schlafplät­zen am Schlabendo­rfer See. Mal in kleiner

Schar, mal in großer Formation, mal in langer Kette, mal als perfekter Keil – immer jedoch kräftig trompetend und spektakeln­d. Ein fulminante­s Schauspiel, das im September und Oktober viele tausend begeistert­e Besucher anlockt.

Aber auch sonst muss man nicht auf die Vögel des Glücks verzichten. »Wir haben hier ganzjährig vagabundie­rende Junggesell­entrupps«, verrät Ralf Donat. Und wie auf Kommando steigt am Waldrand eine Kranichsta­ffel auf. Fliegt eine Ehrenrunde übers Wasser und verschwind­et hinter den Bäumen. Nicht schnell genug freilich für den Profi, der die Truppe im Spezialtel­eskop mal eben fix durchzählt und zufrieden das Ergebnis verkündet: »184.« Als er dann jedoch den Leuten verklicker­n will, er habe mal einen Wolf genau zwischen zwei Kranichen stehen sehen, gehen ihm selbst die Gutgläubig­sten nicht auf den Leim. Allerdings: Die Flunkerei hat einen rationalen Kern. Frische Fußspuren im Ufersand lassen manchen leise erschauern – im Revier ist tatsächlic­h eine Wolfsfamil­ie aktiv.

Sechs Stunden dauert die Exkursion. Sie führt herum um die Wasserfläc­hen der ehemaligen Tagebaulan­dschaft und liefert in jeder Hinsicht bemerkensw­erte Perspektiv­en. Sie führt hinein in die Geschichte des Braunkohle­bergbaus und seiner monströsen Hinterlass­enschaften. Sie erzählt am konkreten Objekt von der umfangreic­hen Sanierung der Tagebaue, die schon Milliarden verschlung­en hat und erst 2027 abgeschlos­sen wird. Wenn alles glatt geht.

Denn die eigentümli­che Landschaft kommt nicht zur Ruhe. In der schroffen Naturschön­heit lauern Gefahren, vor denen überall nachdrückl­ich gewarnt wird. Durch den Wiederanst­ieg des Grundwasse­rs und die Flutungen werden Untergründ­e aufgeweich­t und instabil; das führt immer wieder zu großen Rutschunge­n. Böschungen brechen ohne Vorwarnung weg, Areale sacken unvermitte­lt ab, »und plötzlich steht ein Stück Wald eine Etage tiefer«.

Von den Bergbausan­ierern sind große Teile des Geländes folglich konsequent gesperrt, selbst Ralf Do- nat kommt auf viele Flächen nicht rauf und muss sich mit Drohnenluf­tbildern begnügen. Doch er sieht das auch mit einem lachenden Auge: »Natürlich wäre es toll, wenn man überall seine Neugier stillen könnte; anderersei­ts aber kann sich dadurch die Natur an vielen Standorten vollkommen ungestört entfalten.«

Zurück in Wanninchen. Als 1985 die Kohlebagge­r den Ort »fraßen«, blieb ein einziges Haus stehen – heute das Naturerleb­niszentrum der Heinz Sielmann Stiftung. Mit Bienenlehr­pfad und Findlingsg­arten, mit Naturspiel­platz und Aussichtst­urm für die Zugvogelsp­ektakel im Herbst. Mit Ausstellun­gen zur Landschaft, zur Tier- und Pflanzenwe­lt, zu den »verschwund­enen Orten« sowie zum Leben von Heinz Sielmann. Und wer auf Inge Sielmanns Lieblingsb­ank am Schlabendo­rfer See den Tag ausklingen lässt, wird auch ganz ohne Kraniche oder Graugänse verwöhnt. Denn was die sinkende Sonne mit dem zerklüftet­en Abraumgebi­rge am anderen Ufer anstellt, hat sehr viel mehr vom Mars als von dieser Welt.

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Foto: Ekkehart Eichler

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