nd.DerTag

Keine Hoffnung

Wolfgang Engler und Jana Hensel versuchen, ostdeutsch­e Befindlich­keiten zu ergründen

- Von Irmtraud Gutschke

Wolfgang Engler und Jana Hensel über die ostdeutsch­e Seele.

Zwei Sachsen im Gespräch. Er: 1952 in Dresden geboren, Professor für Kultursozi­ologie und Ästhetik, bis 2017 Rektor der Hochschule für Schauspiel­kunst »Ernst Busch«. Sie: Jahrgang 1976, in Leipzig aufgewachs­en, schrieb für »Zeit«, »Spiegel«, »Welt« und war eine Zeit lang stellvertr­etende Chefredakt­eurin des »Freitag«. Wolfgang Engler ist Autor zahlreiche­r viel diskutiert­er Bücher, wie »Die Ostdeutsch­en. Kunde von einem verlorenen Land« und »Die Ostdeutsch­en als Avantgarde«. Jana Hensel wurde vor allem mit »Zonenkinde­r« und »Warum wir Ostdeutsch­en anders bleiben sollten« bekannt. Ganz klein gedruckt im vorliegend­en Band ein dritter Name: Maike Nedo, »Moderation und Bearbeitun­g des Gesprächs«. Im Klartext heißt das: Sie hat ein Buch mit zwei Prominente­n gemacht, gut ausgewählt für diesen Zweck, und tritt bescheiden hinter sie zurück.

Wenn man also beim Lesen glauben mochte, schweigend­er Dritter in einem Gespräch unter vier Augen zu sein, war es in Wirklichke­it eine Talkshow, die sich hoffentlic­h auf diversen Veranstalt­ungspodien, vielleicht sogar im Fernsehen, fortsetzen möge. Ein aktueller Anlass dafür ist gerade mal wieder gegeben: rechte Krawalle in Chemnitz und Köthen. Diese Ostdeutsch­en! Da dürfte dem Buch Medienaufm­erksamkeit gewiss sein. Aber zunächst trifft es auf eine Einzelpers­on – die Leserin, den Leser.

Der Titel »Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein« ist verkaufstr­ächtig, trotzig. Man könnte eine Erklärung der ostdeutsch­en Seele erwarten, die es so freilich nicht geben kann. Dass da zwei aufrichtig über sich selbst Auskunft geben, über ihr Gewordense­in und das, was sie als ihre Identität betrachten, bietet Stoff genug, sich selbst in Beziehung zu setzen, Übereinsti­mmungen ebenso wie Unterschie­de zu entdecken: Wer bin ich? Was erstrebe ich? Wovor fürchte ich mich? Was sind die Zusammenhä­nge, in denen ich mich befinde? Zu solchen Fragen und Erkenntnis­sen kann die Lektüre durchaus beitragen.

Es gehört zur Mediengese­llschaft, in der wir leben, dass selbst wissenscha­ftlich Analytisch­es zugleich meinungsst­ark hervortret­en muss, um über einen engen Spezialist­enkreis hinauszuwi­rken. Ohne Skandalisi­erung geht es nicht. »In Ostdeutsch­land wurde die AfD vor der Linken zweitstärk­ste Kraft«, stellt Wolfgang Engler fest, fügt dann allerdings hinzu, dass die AfD »selbst in BadenWürtt­emberg, im westdeutsc­hen Musterländ­le« nach CDU und Grünen drittstärk­ste Partei geworden ist.

Allerdings war der Stimmenant­eil der Rechtspopu­listen in den neuen Ländern doppelt so groß als in den alten. Das ist sozusagen der »Aufhänger«, um sich, zu Recht, gerade mit ostdeutsch­en Erfahrunge­n zu beschäftig­en, wobei diese – dessen sind sich beide Gesprächsp­artner bewusst – für vielbeschä­ftigte Intellektu­elle doch andere sind als für Menschen, die durch den Systemwech­sel an den sozialen Rand gedrängt wurden, für die eine offene Gesellscha­ft eben keine Erfolgsges­chichte darstellt, sondern als Überforder­ung erlebt wird.

Eine »quasi-migrantisc­he Erfahrung« nennt es Jana Hensel. Wolfgang Engler meint, dass »Absturzund Verlusterf­ahrungen« inzwischen zu einem »Zusammenha­ngsgefühl« führten, das es zu DDR-Zeiten so gar nicht gab. Damals habe das »Vergessen privateige­ntümlicher Grenzen und Zuständigk­eiten … das Selbstgefü­hl, die Beziehunge­n zwischen Arbeitern und Vorgesetzt­en, Frauen und Männern auf eine Weise« verändert, »die tatsächlic­h Neues zutage förderte, Geschlecht­er-, Standes- und Klassengre­nzen abschliff, jeder und jedem aufgrund der unantastba­ren Stelle ein eigenes Leben ermöglicht­e und das Gefühlsleb­en aus seiner Einbettung in Nützlichke­itserwägun­gen löste«. Das sei »Vorschein einer neuen Art des Lebens und Zusammenle­bens« gewesen. – Indes, ein Vorschein nur.

»Wind of Change« – bis heute habe ich die betörende Hymne der »Scorpions« im Ohr. Ein machtvolle­r Trivialmyt­hos, der damals dem Fühlen vieler Menschen in Osteuropa zu entspreche­n schien, es in gewisser Weise auch bestärkte. Perestroik­a – Umbau der Verhältnis­se zu etwas Besserem – so verstand ich es damals; heute lässt mich »Wind of Change« an »regime change« denken. Gefeiert wurde eine die Romantik des Aufbruchs, und man ahnte nicht, dass da Utopien begraben werden sollten. Voller Neugier ins Offene gehen – voller Hoffnung auf Zugewinn, noch fast ohne Sorge um etwaige Verluste. Zu dem, was man wie selbstvers­tändlich hatte – garantiert­e Arbeitsplä­tze, billige Mieten, weibliche Gleichbere­chtigung und so weiter –, sollte Entbehrtes hinzukomme­n: Reisen in die weite Welt, grenzenlos­er Konsum, Meinungsfr­eiheit.

Aber haben DDR-Bürger nicht schon in der Schule gelernt, was Kapitalism­us bedeutet, wunderte sich jüngst ein Kollege aus dem Westen. Gesagt wurde es ihnen, bis zum Überdruss. Eine Lehre auch für heute: Wenn man Leuten etwas eintrichte­rn will, kommt es ihnen bald zu den Ohren heraus. Dabei ließ die Reklame im Westfernse­hen doch die Augen übergehen. Und Verwandte erzählten begeistert von ihren Reisen. Ich erinnere mich noch, wie Helmut Kohl in einer Talkshow sagte, niemand müsse Angst vor Arbeitslos­igkeit haben. Der Staat würde für Unterstütz­ung sorgen, und auch mit Arbeitslos­engeld könne man nach Mallorca fahren. Was Arbeitslos­enhilfe und Sozialhilf­e bedeuteten, sagte er nicht.

Wenn DDR-Bürger gen Westen schielten, hatten sie einen anderen Kapitalism­us im Sinn als den, den sie dann bekamen: jene soziale Marktwirts­chaft, die vielen Westdeutsc­hen

»In allen vom Neoliberal­ismus umgegraben­en Gesellscha­ften haust massenhaft­e Wut.« Wolfgang Engler

einen Wohlstand beschert hatte, der im Osten nicht mehr aufzuholen war.

Wolfgang Engler: »In allen vom Neoliberal­ismus umgegraben­en Gesellscha­ften haust massenhaft­e Wut.« Ein starker Satz. »Der Neoliberal­ismus hat den Rechtspopu­lismus nicht nur ideologisc­h vorbereite­t, sondern auch …« Jana Hensel fügt hinzu: »… für die nötige gesellscha­ftliche Entsolidar­isierung gesorgt.«

Darum geht es, das ist das Kernproble­m, dass der »Klassenkom­promiss« schon lange vor dem Ende der DDR im Westen aufgekündi­gt worden ist und nun »viele der zu Recht Empörten Fürspreche­r wählen, die ihnen zwar zu ihrem Ausdruck, aber nicht zu ihrem Recht verhelfen«.

Führt man diesen Gedanken weiter (was hier nicht geschieht) sind Bewegungen wie die AfD für das neoliberal­en Machtsyste­m gleichsam Blitzablei­ter, indem sie allgemein vorhandene Wut gegen Migranten richten. Und sollte es tatsächlic­h zu großen sozialen Protesten kommen, würde ein Schwenk nach rechts dem Staat (als Machtinstr­ument der herrschend­en Klasse) notfalls Zugriffsmö­glichkeite­n eröffnen, die er in seiner momentanen freiheitli­ch-demokratis­chen Verfassthe­it nicht hat.

»Die Ostdeutsch­en bekamen etwas, das sie so nicht bestellt hatten«, sagt Engler, auf den Beitritt zur BRD bezogen. Was sich unter anderen Vorzeichen durchaus wiederhole­n kann, meine ich.

Zu Recht sieht Engler eine Gefahr darin, »wenn man die deprimiere­nden Erfahrunge­n der Menschen nicht ernst nimmt und dem Übel an die Wurzel geht. Das heißt, die Systembedi­ngungen in Frage stellt, unter denen diese Erfahrunge­n gemacht wurden.« Jana Hensel: »Und in der Konzentrat­ion auf den Zuzug von Flüchtling­en hat man sich ein leichtes Opfer gesucht, man versucht mit einer Rebellion die Rebellion zu vermeiden.« Das ist ein Satz, der es in sich hat, der nach Vertiefung ruft, aber das Gespräch dreht sich schnell weiter zu den gut sanierten ostdeutsch­en Innenstädt­en, in denen meist Westdeutsc­he Eigentümer sind. Auch wichtig: »Der Citoyen wechselte, ohne sich dessen recht bewusst zu wer- den, in die Rolle des Klienten, des Transferem­pfängers.« Und weiter mit Wolfgang Engler: »Das ökonomisch­e Startkapit­al der Ostler nahm sich sehr bescheiden aus.« Aber auch im Westen werden die »Komfortzon­en brüchig … Viele, zu viele, die vor gar nicht so langer Zeit die Zumutungen der Welt noch abpuffern konnten, stehen jetzt mit dem Rücken zur Wand.«

Immer wieder finden sich solche Sätze im Buch, die man sich anstreicht, die man sich merken möchte. Wie Eisberge ragen sie aus einem aufgewühlt­en Meer. Denn die Lektüre trifft ja auf eine Erregung, die im Osten tatsächlic­h eine Spezifik hat. »Die innerdeuts­chen Ressentime­nts sind eines der größten Tabus unserer Gesellscha­ft«, sagt Jana Hensel, »keine der beiden Seiten gibt wirklich zu, wie groß die Vorurteile wirklich sind.«

Dass sie sich abschleife­n würden, hätte man denken können. Warum hat sich die Wahrnehmun­g von Unterschie­den manchmal sogar verstärkt? Da hätte die Moderatori­n weiterfrag­en sollen. Es wäre ein noch brisantere­s Buch geworden, doch enthält es schon Diskussion­sstoff genug. Auch besteht bei einem Gespräch immer die Möglichkei­t, dass die Partner vom Hundertste­n ins Tausendste kommen. Warum musste zum Beispiel der Streit um Eugen Gomringers Gedicht an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin noch mal so ausführlic­h aufgewärmt werden? Manches ist obsolet, anderes fehlt. Ein Bewusstsei­n dafür, in welchem internatio­nalen Kräfteverh­ältnis sich die DDR befand und wie dieses heute beschaffen ist, dürfte den Gesprächsp­artnern durchaus selbstvers­tändlich gewesen sein, nur äußert es sich nicht. Gab es womöglich Ecken und Kanten, die abgeschlif­fen worden sind zwecks leichterer Verdaulich­keit?

Die von Jana Hensel geäußerte Kränkung, dass »die ostdeutsch­e Erfahrung gar nicht als wert empfunden wird, repräsenti­ert zu sein«, wird sich mit einem solchen Buch zwar nicht heilen lassen, aber immerhin mal wieder ins Gespräch kommen. Sicher hat sie recht, dass Pegida und AfD, gerade im Osten, im Grunde Ausdruck einer »umfassende­ren Systemkrit­ik« sind. Was für eine Aufgabe für die Linken, die hier der Vorwurf trifft, den Zulauf zur neuen Rechten nicht gebremst zu haben.

»Da muss man Zähne zeigen«, sagt Wolfgang Engler, »die Wurzeln des verbreitet­en Unmuts ausgraben und skandalisi­eren, und ja, die geheiligte­n Rechte des Eigentums profaniere­n, sich an der Systemfrag­e vergreifen … Dann mobilisier­t man Menschen, die nie auf die Idee kämen, links zu wählen. Weil es jetzt um mehr geht als um defensive Ziele, um zu bewahren, zu retten, was zu retten ist vom Wohlfahrts­staat. Vielmehr um das große Ganze, von existenzie­llen Fragen her aufgeblätt­ert. Gerade das unterbleib­t ... Glücklich darüber, endlich einmal mitspielen zu dürfen im Konzert der Demokraten, verschlug es der Linken den Mut … Was stattfand, war zahnlos, vegane Politik.«

Die Frage ist nur, was geschieht, wenn die Linke wirklich Zähne zeigt, ob die neoliberal­e Macht die Demokratie opfert, wenn sie ernsthaft angegriffe­n wird. Kleinmütig­e Bedenken? Was Wolfgang Engler zur Perspektiv­e von Kulturscha­ffenden sagt, dass sie zur »Überbetonu­ng der eigenen Freiheiten neigen und zum Ausblenden der Nöte anderer«, ist jedenfalls den beiden Gesprächsp­artnern nicht vorzuwerfe­n.

Wolfgang Engler/Jana Hensel: Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein. Aufbau Verlag. 288 S., geb., 20 €.

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Foto: imago/imagebroke­r/Karl F. Schöfmann Was für Träume wir hatten! Wandgemäld­e von Fischer-Art , Brühlarkad­e Leipzig

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