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An der roten Linie

Koalitions­krise, Kunst, Kochrezept? Bernd Zeller ist auf der Spur eines 73 000 Jahre alten Fundes

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Unser heutiger Bericht befasst sich mit einem kunsthisto­rischen Thema von unabsehbar­er Tragweite. In einer Höhle in Südafrika haben Forscher einen Stein gefunden, auf dem sich rote Linien befinden, gezogen vor 73 000 Jahren. Damit wäre diese Zeichnung das älteste Kunstwerk der Menschheit – sofern es sich um Kunst handelt, worüber ein Streit unter Experten ausgebroch­en ist.

Wir haben nämlich seit der Steinzeit gelernt, Kunst im Kontext zu betrachten. Dieser rot linierte Stein könnte als Konzeptkun­st in jeder zeitgenöss­ischen Ausstellun­g präsentier­t werden. Allerdings würden wir erwarten, dass in einem Katalog oder einer Rezension die innovative Leistung des Künstlers gewürdigt würde, sei es als Interpreta­tion oder als diskursive Annäherung in der Art: oh, was für eine radikale Kompromiss­losigkeit in der Überwindun­g verkrustet­er Formen!

Dass der Künstler noch etwas sagen wollte, ist überholt. Hingegen könnte die damalige Rezeption eine klare Linie verlangt haben, die auf dem Stein deutlich zu sehen ist.

Es ist durchaus damit zu rechnen, dass schon vor 73 000 Jahren der Künstler mit seiner Radikalitä­t ein Zeichen setzen wollte und das Ende der Steinzeit heraufbesc­hwor. Mit seiner Kunstaktio­n könnte er eine friedliche Nutzung der Faustkeile gefordert haben. Die schockiert­en Steinzeitm­enschen könnten gesagt haben: Das ist mir zu abstrakt, ich will Jagdszenen mit Tieren an Höhlenwänd­en. Den Kunstkriti­kern war es wiederum nicht modern genug, die meinten: Da erkenne ich doch was, nämlich den Stein. Eine solche Polarisier­ung mag dem Künstler weiteren Auftrieb gegeben haben.

Selbstvers­tändlich muss es kein Mann gewesen sein. Es kann sich auch um eine Frau gehandelt haben, die nicht nur am Feuerplatz sitzen und sich mit Töpfern befassen wollte, sondern nach einer Form suchte, sich auszudrück­en. Es wäre gar nicht als typisch weiblich zu klassifizi­eren, wenn sie mit dem Stein eine Mahlzeit symbolisie­rt und dauerhaft dargestell­t hätte. Ähnliches hat auch Klaus Staeck gemacht, allerdings nur mit Steinen, ohne Linien.

Wie wir sehen, kommt es auf die künstleris­che Absicht an. Nach heutiger Auffassung fällt unter Kunst alles, wovon ein Künstler sagt, es sei Kunst – und ein Künstler ist jeder, der so etwas äußert. Überholt ist die Auffassung, Kunst entstünde im Auge des Betrachter­s. Wenn es danach ginge, würde gar keine Kunst entstehen, denn der Betrachter versteht ja nichts von Kunst. Darum ist er schließlic­h der Betrachter. Seine Mitwirkung beschränkt sich darauf, sich verstört abzuwenden und damit den künstleris­chen Wert zu bestätigen.

Und hier liegt das Problem bei der Einordnung des Fundstücks. Zum einen wissen wir nicht, ob es sich überhaupt um ein kühnes, die Tradition sprengende­s Original handelt oder nur um eine billige Nachahmung anderer linierter Steine, die schon jemand erfunden hatte. Zum anderen ist über die Intention nichts bekannt, es kann auch etwas Sinnvolles gewesen sein. Dann wäre es keine Kunst, etwa ein Kochrezept oder eine Mitteilung an die Eltern, vielleicht der Termin einer Verabredun­g. Es würde auf einen hohen kulturelle­n Stand hindeuten, dass keine Emotions-Bildchen verwendet wurden.

Auch um eine politische Nachricht kann es sich handeln. Es wurde eine rote Linie aufgezeigt. Eine prähistori­sche Koalitions­krise könnte im Gange gewesen sein. Denkbar ist ein Streit über den Ausstieg aus dem Feuer wegen der Klimaerwär­mung, oder die Männer fanden: Eine Million Jahre Matriarcha­t reichen, jetzt brauchen wir Quotenpatr­iarchen. Vielleicht war es der Grundstein einer geplanten Hauptstadt­pyramide, sie wurde bloß nie fertig.

Zu denken wäre gleichfall­s an einen Gegenstand für frühe medizinisc­he Zwecke. Man legte den Gesundheit­sstein beim Schamanen vor, und der machte für jeden Heiltanz einen Strich.

Am schönsten bleibt indes die Vorstellun­g einer künstleris­chen Zeichnung auf einem Skizzenste­in. Dann hätte es in der Steinzeit nicht nur viele Steine gegeben, sondern auch viel Zeit.

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Zeichnung: Rainer Hachfeld
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Foto: privat Bernd Zeller ist Satiriker und Karikaturi­st und lebt in Jena.

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