Biotop oder Bestiarium?
Die Zeitschrift »Idee« widmet sich dem »Intelligenzbad Ahrenshoop«
Am Ende bleiben einige Bilder und verstreute Notate. Die Bilder im Kopf, die mehr sagen als Fotografien, sterben mit den Dabeigewesenen, die diese Zeit bezeugen können. Die Notate bleiben für die Nachgeborenen. Statt Erinnerungen streiten dann die Interpretationen Unbeteiligter – das ist der Weg jeder Gegenwart in die Historie.
Wenn es um Schnittpunkte von Alltags- und Geistesgeschichte geht, zeigt sich das Dilemma am stärksten: Wie lassen sich nachträglich jene Atmosphären erzeugen, ohne die die Wahrheit über eine Geschichte abstrakt, also unwahr wird? Die im Beck-Verlag erscheinende Zeitschrift »Idee« stellt sich in ihrem Sommerheft zum Thema »Intelligenzbad Ahrenshoop« ganz bewusst dieser fragilen Gratwanderung zwischen experimentellem Blick auf das Gewesene und jener höchst individuellen Rückholung des Vergangenen aus der Gespensterwelt, in die es längst eingegangen ist – mit jedem der Beteiligten, der inzwischen gestorben ist, ein Stück mehr.
Marina Achenbach spricht es in ihrem Beitrag »Der Sommer nach dem Krieg« sehr deutlich aus, worum es in diesem ungewöhnlichen Heft, das ein kulturgeschichtliches Kleinod von Ausmaßen ist, vor allem geht: »Erinnerungen, die nicht in die Normen passen, brauchen Verteidigung. Die Spuren können sich kaum halten, sinken ab, sind in Gefahr, unsichtbar zu werden. Als hätte es das alles nicht gegeben.« Der Reichtum der Erinnerung liegt in der Fülle der Details, die Möglichkeiten bergen – und das ist etwas, das ebenso mit der Zukunft wie mit der Vergangenheit zu tun hat.
Ahrenshoop also. Das schon im Sommer 1946 nach sowjetischem Vorbild – Peredelkino! – zur Künstlerkolonie werden sollte, ein »Intelligenzbad«. – »Intelligenz«, das ist auch so ein inzwischen ausgestorbenes Wort aus dem Sprachgebrauch des Stalinismus, das die Intellektuellen nur soziologisch verortet und funktional festgelegt gelten lässt, als eine Bezeichnung für jene »Schicht« zwischen den Klassen der Arbeiter und Bauern, denen sie dienen sollte, was heißt, dass sie sich doppelt zu erwehren hatte: gegen das Zerriebenwerden ihrer Eigenständigkeit durch diese gesellschaftliche Zwischenstel- lung einerseits und des Wirkungsverlustes durch privilegierte Einhegung durch die staatliche Macht andererseits. Die jüngere DDR-Generation, zu der Annett Gröschner gehört, sah in den 1980er Jahren diese selbstverschuldete Ohnmacht und spricht Ahrenshoop in der Überschrift ihres Beitrags dann auch überaus salopp als »Bonzen-Aquarium« an – hier widerstreiten tatsächlich die Erinnerungen verschiedener Generationen.
Gehen wir an den Anfang. Für die »Kulturschaffenden« sollte ein Refugium entstehen, so wollten es vor allem der spätere DDR-Kulturminister Johannes R. Becher und Willi Bredel mit dem unmittelbar nach dem Krieg sehr einflussreichen, später dann zum Folkloreverein absinkenden Kulturbund. Ahrenshoop, das Fischerdorf, war bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Künstlerkolonie, ähnlich der in Schwaan, wohin sich Maler wie Paul MüllerKaempff oder Alfred Partikel zurückzogen (Sebastian Kleinschmidt widmet dieser Vorgeschichte den Beitrag »Hohe Himmel, weite Wasser«). Das Problem: Der Ort ist voll von Flüchtlingen. Das passt der ruhesuchenden Prominenz nicht, sie werden, so heißt es in einem Maßnahmeplan, »nach Absprache mit den zuständigen Behörden umgesiedelt«, etwa 20 kleine Häuser sollen für etwa 150 Sommergäste zur Verfügung stehen.
1947 beginnt die erste Saison des »Intelligenzbades« mitsamt seinen »Kulturschaffenden« (ein ebenso infantiles Wort aus einer anderen Zeit wie heute die »Kreativwirtschaft«). Auf über dreißig Seiten werden anhand von Urlaubsfotos die Jahre 1949 bis 1965 dokumentiert. Diese Chronik hebt 1949 an mit der Schauspielerin Inge Keller und ihrem Mann KarlEduard von Schnitzler, der ab 1960 mit dem »Schwarzen Kanal« zu zweifelhafter Berühmtheit kam. Hier sieht man die junge Familie über ein aufzublasendes Schlauchboot gebeugt, ein Nacktfoto der Schauspielerin vom Strand zeigt den freizügigen Geist, der zur Avantgarde jener Jahre gehörte, aber nicht unumstritten war. Becher etwa war entschieden gegen das Nacktbaden, es gab einen richtigen Kulturkampf darum. Bekannt ist die Anekdote, in der er auf eine ältere nackte Frau am Strand trifft, nur bedeckt mit einer Zeitung über ihrem Gesicht. »Schämst du dich nicht, du alte Sau!«, soll er ausgerufen haben. Kurz darauf bekam Anna Seghers in Berlin einen Preis aus den Händen des Kulturministers mit einigen preisenden Höflichkeitsfloskeln garniert. »Für Sie immer noch: du alte Sau!«, soll Anna Seghers erwidert haben.
Alle scheinen sich hier im Sommer versammelt zu haben. Brecht kam 1950 mit Helene Weigel, Ernst Busch, der Kritiker Herbert Ihering, Hans Eisler mit seiner Frau Louise folgten. Von Eisler gibt es Strandkorbfotos mit Strohhut. Als 1953 der Skandal um seinen »Faustus«-Operntext über ihn hereinbrach, der in dieser Zeitung als »pessimistisch, volksfremd, ausweglos, antinational« angeprangert wurde, teilte man ihm in Ahrenshoop mit, dieses Jahr stünde sein Ferienhaus nicht für ihn zur Verfügung. Privilegien und Privilegien-Entzug wechselten unvermittelt. Käthe Miethe darf
»Intelligenz«, das ist auch so ein inzwischen ausgestorbenes Wort aus dem Sprachgebrauch des Stalinismus.
nicht fehlen, die mit ihrer Lebensgefährtin Inge Lettow am Strand lagert, wo sie nach massenhaften Konsum von Schnaps ausnüchtern. Auch Heiner Müller kommt, der im »Sonntag«, der Zeitung des Kulturbundes, 1954 Miethes Heimatbuch »Mein Fischland« etwas voreilig als »Blut-und-Boden-Literatur« bezeichnet hatte. Für diese Beleidigung der »Königin des Fischlandes« musste er dann erst einmal Abstand zu Ahrenshoop halten. »Wer ist denn dieser Heiner Müller?«, fragte Ehm Welk und bekam zur Antwort: »Eine Kanaille von Becher.«
Es gibt Fotos von und Texte zu Victor Klemperer, Konrad Wolf, Wieland Herzfelde, dem damals noch schwer übergewichtigen Franz Fühmann, Christa Wolf, Günther Weisenborn oder auch zu Sarah und Rainer Kirsch. Die geistige Elite eines Landes am Strand liegend. Bis Mitte der 1960er Jahre ist das mit »Bonzen-Aquarium« nur ungenügend beschrieben. Aber nach dem 11. ZK-Plenum vom Dezember 1965, dem aggressiven Angriff der SED-Spitze auf eine allzu kritisch gewordene Kunstszene, änderte sich das. Die Künstler mieden nun solch zentrale, symbolträchtig gewordenen Orte immer mehr – zogen sich in eigene Nischen zurück.
Interessant jedoch vor allem der Geist, der hier in den Anfangsjahren herrschte. Ulrich von Bülow etwa dokumentiert die »Ahrenshooper Sommerakademie 1947«. Unter der kontrollierenden Schirmherrschaft des sowjetischen Kulturoffiziers Oberst Tulpanow debattierte man zusammen mit 32 Hörern (deren Durchschnittsalter 29 Jahre betrug!) über heute sehr gegenwärtig scheinende Fragen. Alexander Abusch sprach über »Der Irrweg der Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte«. Ernst Niekisch, der vormalige Nationalbolschewist (jetzt Mitglied der SED und Abgeordneter der Volkskammer), der 1932 die wichtige Schrift »Hitler – ein deutsches Verhängnis« veröffentlicht hatte, beginnt eine Diskussion über den mit ihm »zerfreundeten« Ernst Jünger. Diese hier angestoßene Debatte wird deutschlandweit geführt, der junge Philosoph Wolfgang Harich verdammt ihn, Stephan Hermlin verteidigt ihn. Der Philosoph Hans-Georg Gadamer (Vorläufer von Ernst Bloch auf dem Leipziger Lehrstuhl für Philosophie) ist als »leitendes Mitglied der Leipziger Ortsgruppe des Kulturbundes« in Ahrenshoop anwesend und streitet mit Becher, der (vielleicht wider besseres Wissen) gegen den Existenzialismus Sartres, Jaspers und Heideggers polemisiert. In diesen Ahrenshooper Tagen erreicht Gadamer auch der Ruf nach Frankfurt am Main, den er annimmt.
Dennoch erinnert er sich später mit Sympathie an Becher: »Ich hatte überhaupt in den Gesprächen, die ich dort in den Ferien hatte, das Gefühl, dass er sehr genau sah, wie viel PseudoProduktion sich da aufgetan hatte und wie er eben auch ein bisschen ohnmächtig war und als Leiter der Kulturpolitik doch nur sehr begrenzt sich durchsetzen konnte. Das war eigentlich das, was mich an ihm angezogen hat. Da war so viel ehrliches Erschrecken in ihm.«
Dieses Ahrenshoop-Heft über ein Biotop, das zeitweise auch Züge eines Bestiariums trug, ist vor allem eines: eine mehr als bloß regionalgeschichtliche Fundgrube.
Idee, Zeitschrift für Ideengeschichte, Sommer 2018, Beck Verlag, 127 S., 14 Euro