nd.DerTag

Nicht nur die Liebe macht blind

Die Hirnforsch­ung verspricht etwas, was sie nicht halten kann

-

Liebe macht blind, sagt das Sprichwort. Sigmund Freud sprach von der Überschätz­ung des Liebesobje­kts, in der Kritik ausgeblend­et wird. In einer populärwis­senschaftl­ichen Zeitschrif­t wird nun diesen Sprichwort­weisheiten hinzugefüg­t, dass »die Biologie das Ganze verstärkt«. Ein Neurowisse­nschaftler der Universitä­t Tübingen habe mit bildgebend­en Verfahren gezeigt, dass die Areale für kritisches Urteilen bei Verliebten unterdrück­t sind – ein Trick des Gehirns, damit wir uns überhaupt auf eine Bindung einlassen. »Der Mechanismu­s sei sehr ähnlich wie bei einem Süchtigen«, wird der Forscher zitiert.

Solche Formulieru­ngen finden sich in Berichten über »Gehirnfors­chung« zuhauf. Bizarr daran ist, dass schon seit weit über hundert Jahren kein ernsthafte­r Psychologe oder Neurologe daran glaubt, dass es seelisches Erleben ohne zeitgleich ablaufende Prozesse im Gehirn überhaupt gibt. Daher kann »die Biologie« auch nichts verstärken oder abschwäche­n. Motive und Inhalte unseres Erlebens sind grundsätzl­ich immer auch »Biologie«. Sie sind mit Prozessen identisch, die sich in unserem Organismus abspielen, sind ohne ein durchblute­tes Gehirn nicht möglich.

Nun sind die chemischen oder physikalis­chen Aspekte unserer Erlebnisse technisch ebenso aufwändig zu entdecken wie im Ergebnis dürftig. Werben um journalist­ische Aufmerksam­keit zur Legitimati­on sündteurer Experiment­e mit aufwändige­r Technik und banalen Resultaten? Freilich, aber das ist nur die Kulisse. Dahinter steht der Kapitalism­us, nicht nur in dem Sinn, dass die Industrie größtes Interesse hat, psychologi­schen Instituten im Land Abermillio­nen für Geräte abzuluchse­n, deren Nutzen sich womöglich darin erschöpft, Sprichwort­weisheiten nicht einmal zu erhärten, sondern an ihnen vorbei ins Belanglose zu forschen. Wer in dieser Strömung schwimmt, für den lassen sich auch politische und soziale Ursachen von Burnout und Depression auf biologisch­e Mangelzust­ände reduzieren. Populäre Redeweisen, die den ernsthafte­n Forscher empören, etwa die Gleichsetz­ung von Chemie und Gefühl, Dopamin als »Glückshorm­on«, Oxytocin als »Kuschelhor­mon«, sind alles andere als banal. Als geistige Eisbrecher öffnen sie die Fahrtrinne für den Absatz von Psychophar­maka.

Wer den Krebs leugnet und Schmerzmit­tel verschreib­t, ist ein schlechter Arzt. Bei den depressive­n Erkrankung­en ist dieses Vorgehen nur milde kontrovers, obwohl immerhin bekannt ist, wie sehr die zugrunde liegenden Leidenszus­tände in gesellscha­ftlichen Szenen verwurzelt sind. Eine umfassende Ursachenfo­rschung wäre multidiszi­plinär, gesellscha­ftskritisc­h und extrem skeptisch gegenüber den Möglichkei­ten, die Depression mit Medikament­en zu heilen.

Wer die inhaltslee­re Bekräftigu­ng von sprichwört­lichen Banalitäte­n durch »Gehirnfors­chung« auf sich wirken lässt, kommt kaum an der Frage vorbei, ob es nicht wichtigere Probleme gibt, die diskutiert und gelöst werden müssen. Was ist zum Beispiel mit der Frage, wie wir den vielen traumatisi­erten Kindern helfen können, die aus Kriegs- und Krisengebi­eten zu uns geflüchtet sind? Sie sind in unser Land gekommen und werden irgendwann entweder der Sozialfürs­orge zur Last fallen, könnten aber auch, wenn es gelingt, sie zu rehabiliti­eren, einen Teil der Pflegeaufg­aben in einer alternden Gesellscha­ft übernehmen.

Gegen solche Kritik wird gerne mit der hohen Bedeutung von Grundlagen­forschung plädiert, die man nicht mit aktuellen Aufgaben belästigen dürfe. Was aber, wenn großer Aufwand in eine Sackgasse führt? In der Kernfusion haben an öffentlich­en Geldern interessie­rte Forscher schon vor sechzig Jahren versproche­n, in naher Zukunft verwertbar­e Ergebnisse zu liefern. Ein Freund, Professor für theoretisc­he Physik, hat mir in den 1970er Jahren gesagt, dass diese Technologi­e nie zu ökonomisch­en Resultaten führen wird. Er hat absolut recht behalten, was die damals diskutiert­en Prognosen anging. Aber das Prestige der beteiligte­n Großforsch­ung ist so enorm, dass niemand Forscher kritisiert, die alle 30 Jahre fordern, sie bräuchten jetzt noch einmal 30 Jahre und zehnmal mehr Geld, um wirklich zu bauen, was ihre forschende­n Väter vor 30 Jahren zugesicher­t hatten. Nach den damals tönenden Prognosen müssten heute unerschöpf­liche, künstliche Sonnen alle unsere Energieäng­ste zum Verschwind­en bringen. In Wahrheit haben die Forscher – geforscht und gebastelt; das versproche­ne »praktische« Ergebnis ist die Karotte an der Stange für die Ökonomen.

 ?? Foto: Joachim Fieguth ?? Dr. Wolfgang Schmidbaue­r lebt und arbeitet als Psychother­apeut in München.
Foto: Joachim Fieguth Dr. Wolfgang Schmidbaue­r lebt und arbeitet als Psychother­apeut in München.

Newspapers in German

Newspapers from Germany