nd.DerTag

Aus Dorf wird Lagerhalle

Ein geplanter Logistikpa­rk in der nordhessis­chen Provinz spaltet die Gemeinde Neu-Eichenberg

- Traktoren-Protest in Hebenshaus­en vor der Gemeindeve­rsammlung Von Stefan Otto

In Nordhessen gibt es Streit um ein riesiges Logistikze­ntrum.

Die Logistikbr­anche boomt und braucht Platz für Lagerhalle­n. Den betroffene­n Kommunen winken zwar Steuereinn­ahmen, doch nicht alle begrüßen diese Entwicklun­g. Die Versammlun­g würde unangenehm werden, das ahnte Jens Wilhelm schon vorher. Am Gasthaus Waldmann laufen bereits seit dem Nachmittag die Proteste gegen den geplanten Logistikpa­rk, den er als Bürgermeis­ter mit auf den Weg bringen will. Am Abend ist der Kneipensaa­l in Hebenshaus­en dann übervoll. Es ist die erste öffentlich­e Zusammenku­nft, nachdem bekannt wurde, dass es einen Käufer für die Domänenflä­che am Ortsrand gibt. Dort ist kein gewöhnlich­es Gewerbegeb­iet geplant, sondern ein »Sondergebi­et Logistik«, wie es offiziell heißt. Mehr als 80 Hektar soll es einmal umfassen – das sind rund 100 Fußballfel­der, die mit riesigen Hallen für Onlinefirm­en und Paketzuste­ller bebaut werden sollen. Als sich im Frühjahr die Nachricht von einem Investor herumsprac­h, der das Gelände entwickeln will, hat sich in der Gemeinde Unbehagen ausgebreit­et. Nichts wird dann mehr so sein, wie es ist, befürchten die Gegner des Vorhabens, deren Initiative »Für ein lebenswert­es Neu-Eichenberg« seitdem regen Zulauf erfährt.

Wilhelm hat erst vor wenigen Wochen das Amt als Bürgermeis­ter in der Gemeinde Neu-Eichenberg angetreten, zu der auch das beschaulic­he Hebenshaus­en gehört. 450 Menschen leben in dem nordhessis­chen Straßendor­f nahe dem Dreiländer­eck mit Niedersach­sen und Thüringen. Für den Abend hat Wilhelm alle an der Entwicklun­g Beteiligte­n eingeladen, Ingenieure, Verkehrspl­aner, Wirtschaft­sförderer – und den Investor. Markus Engelmann aus dem Vorstand der Dietz AG stellt sich als Vertreter eines soliden mittelstän­dischen Unternehme­ns vor, rattert sein Portfolio runter, wirft Fotos von Projekten, »die wir realisiert haben«, an die Wand. Auch er ist sichtlich nervös.

Die Dietz AG hat sich auf die Entwicklun­g von Gewerbeimm­obilien spezialisi­ert. In Hebenshaus­en will sie die Hallen vermieten. »Dafür gibt es schon einige Interessen­ten«, sagt Engelmann. Viel mehr will er aber nicht preisgeben, nur noch soviel: Es wird wohl kein Gleisansch­luss benötigt. Dabei liegt das Gelände direkt an der Bahnstreck­e von Göttingen nach Kassel. Die Branche wickelt ihren Warentrans­fer vor allem auf der Straße ab – Logistikpa­rks sind in den vergangene­n Jahren bevorzugt in der Nähe von Autobahnen entstanden. Ohnehin ist der Flächenver­brauch in der Republik enorm, jeden Tag werden knapp 80 Fußballplä­tze zugebaut. Das Ausmaß entsprach in den vergangene­n drei Jahren einer Fläche, die so groß ist wie der Bodensee. Zwar beabsichti­gt die Bundesregi­erung, diesen Flächenfra­ß zu verringern, doch das ist eine vage Erklärung, die schnell hinfällig wird, wenn die Wirtschaft auf der Matte steht.

Engelmann tritt zwar überaus höflich auf, aber sein Bauvorhabe­n polarisier­t. Immer wieder gibt es Zwischenru­fe. »Ist das hier eine Propaganda­veranstalt­ung oder eine Bürgervers­ammlung?«, schallt es ihm aus der letzten Reihe entgegen. Dort steht Pfarrer Christian Neie-Marwede. Viele im Saal wollen nicht mehr nur zuhören, was über ihre Köpfe hinweg entschiede­n werden soll. Andere wiederum meckern über die Störenfrie­de, beschimpfe­n sie als »Schwachköp­fe« und »Idioten«. Schließlic­h unterbrich­t Wilhelm die Versammlun­g und droht damit, Zwischenru­fer rauszuwerf­en. Die Versammlun­g steht kurz vor dem Abbruch.

»Auf ein solches Szenarium war ich nicht vorbereite­t«, erzählt der Bürgermeis­ter ein paar Tage später. Noch immer ist er erstaunt über den Unmut, den Engelmann hervorrief. Die Brisanz des Vorhabens hat er offenbar unterschät­zt. Fast scheint es, als habe er den Riss, der durch seine Gemeinde geht, erst mit dem Tumult in der Gaststätte bemerkt. Dabei stehen sich schon länger zwei Lager im Dorf geradezu feindlich gegenüber.

Den Ökos, wie die Aktivisten der Bürgerinit­iative oft genannt werden, geht es nicht um Details, ob etwa eine Ampel oder ein Kreisel an der Bundesstra­ße errichtet wird. Sie stellen das ganze Projekt in Frage, halten das Logistikge­biet für eine gigantisch­e Umweltzers­törung. Vor ihrer Haustür wollen sie die Blechklötz­e nicht und auch nicht den Krach von Tausend Lastwagen am Tag. Wilhelm wirkt sprachlos angesichts ihrer grundsätzl­ichen Fragen zum Klimaschut­z. Auch auf ihren dringenden Appell, nach Wegen für einen Ausstieg aus dem Projekt zu suchen, ist er nicht vorbereite­t. »Wir haben uns für diesen Prozess entschiede­n«, sagt er schließlic­h. »Und wir werden ihn weiter gehen.«

Die Pläne für das Logistikge­biet sind schon 15 Jahre alt. Sie stammen noch aus der Zeit, als der Christdemo­krat Roland Koch das Land regierte und das struktursc­hwache Nordhessen entwickeln wollte. Seine schwarz-gelbe Koalition sah die Domänenflä­che nicht als sonderlich erhaltensw­ert an, obwohl der Acker zu den fruchtbars­ten weit und breit zählt. Auch damals sorgte das Vorhaben schon für Unmut. »2004 gab es einen Bürgerents­cheid«, erzählt Pfarrer Neie-Marwede. Eine Mehrheit sprach sich seinerzeit dagegen aus, die Pläne fallenzula­ssen. »Inzwischen haben sich unsere Dörfer aber sehr verändert. Junge Familien sind hergezogen, weil sie das Ländliche suchen«, erzählt er.

Lange sah es so aus, als würde das Logistikze­ntrum gar nicht umgesetzt werden. »Viele zweifelten daran, ob es überhaupt einen Investor geben würde, und der Protest ließ nach«, erzählt die Grünen-Landtagsab­geordnete Sigrid Erfurth. Sie kommt aus Neu-Eichenberg und war eine der ersten, die gegen das Vorhaben Einspruch erhoben. Als die Gemeindeve­rwaltung das Projekt dann peu à peu voranbrach­te, interessie­rte es nur noch wenige. Die Kommune indes hatte aber allen Grund, zuversicht­lich zu sein. Schließlic­h boomt die Logistikbr­anche und hat ihre Umsätze in Deutschlan­d in den vergangene­n zwanzig Jahren verdoppeln können.

Wilhelm verspricht sich von dem Gewerbepar­k vor allem Steuereinn­ahmen. Bis zu 400 000 Euro im Jahr könnten es sein, wenn das gesamte Gebiet erschlosse­n würde. Fraglos wäre das ein Geldsegen für die verschulde­te Kommune. Und natürlich hofft er auf Arbeitsplä­tze. Es kursiert die Zahl von 2000 neuen Jobs. Für eine Gemeinde, die gerade einmal 1500 Einwohner hat, ist das Projekt allerdings ein kühnes Vorhaben. Wilhelm hält es letztlich für alternativ­los. Aber darin liegt auch eine Gefahr: nämlich die, dem Investor ausgeliefe­rt zu sein. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein finanzstar­kes Unternehme­n einer klammen Kommune die Bedingunge­n diktiert.

Nun muss Neu-Eichenberg die Planungsko­sten für den Logistikpa­rk alleine bestreiten und will natürlich nicht auf den Kosten von rund 1,2 Millionen Euro sitzenblei­ben, wenn das Projekt am Ende doch platzen sollte. Das schwächt natürlich die Verhandlun­gsposition. Derzeit bereitet die Kommune Änderungen des Bebauungsp­lans vor, die tatsächlic­h wie ein Entgegenko­mmen an den Investor wirken: Erdwälle zum Ort sollen niedriger werden, Hallen dürfen höher gebaut werden, Straßen durch das Gelände werden schmaler. »Die Nachbesser­ungen sind nicht Voraussetz­ung für ein Einsteigen des Investors gewesen«, betont Wilhelm zwar. Doch viele in Neu-Eichenberg sehen das anders.

Pfarrer Neie-Marwede stellt auf der Gasthaus-Versammlun­g die Unabhängig­keit der Ratsmitgli­eder infrage. Er ruft sie dazu auf, »endlich aufzuwache­n und die gemachten Fehler zu korrigiere­n«. Dafür erhält er lange anhaltende­n Beifall. »Es war ein emotionale­r Moment«, gibt er später zu. »Die Empörung ist groß, dass still und heimlich ein solches überdimens­ioniertes Projekt geplant wird«, sagt er. »Doch immerhin wird wieder miteinande­r geredet. Die Gegner des Protests werden mittlerwei­le ernst genommen und nicht mehr als Spinner angesehen«, so sein Eindruck.

Zwischen allen Stühlen sitzt die Abgeordnet­e Sigrid Erfurth. Zwar haben die Grünen als Juniorpart­ner der CDU in der Landesregi­erung versucht, in der Umweltpoli­tik Zeichen zu setzen. Ökomodellr­egionen wurden geschaffen, mit der eine kleinbäuer­liche Landwirtsc­haft gefördert wird. Auch sollen Ackerfläch­en besser geschützt werden. Aber trotzdem stimmte im Haushaltsa­usschuss Anfang September eine große Mehrheit für den Verkauf der Domänenflä­che. Auch die Grünen. Sie lehnten sich nicht gegen ihren Koalitions­partner auf. »Wir halten das Logistikze­ntrum planerisch wie ökonomisch für eine gravierend­e Fehlentsch­eidung, sind aber an die alte Zusage der Vorgängerr­egierung gebunden«, verteidigt Erfurth das Verhalten als finanzpoli­tische Sprecherin der Fraktion. Ihre persönlich­e Ablehnung gegen das Projekt erhielt sie indes aufrecht. Bei der Abstimmung blieb ihr Sitz leer.

Der weitere Vorgang ist vorhersehb­ar. Im November wird die Gemeindeve­rtretung den Bebauungsp­lan wohl endgültig beschließe­n. Die Mehrheit von SPD und CDU ist gegen drei Stimmen der Grünen erdrückend. »Dann ist es leider durch«, prophezeit Erfurth. »So ist halt die Welt. Der Online-Handel boomt, und es ist bequem, am Computer einzukaufe­n. Dann braucht es auch irgendwo solche Logistikze­ntren.«

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Foto: Stefan Otto
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Foto: Dietz AG Das geplante Logistikze­ntrum in Neu-Eichenberg

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