nd.DerTag

Gegen das Monopol auf Mobilität

Netzwerke solidarisc­her Städte sind eine Antwort auf die immer restriktiv­eren nationalen Migrations­politiken

- Von Stefanie Kron und Henrik Lebuhn

Für die Entwicklun­g einer linken migrations­politische­n Strategie gilt es, solidarisc­he Städte als Orte der Umsetzung globaler sozialer Rechte in den Blick zu nehmen. Als im Juni dieses Jahres die neue rechte Regierung Italiens mehreren Rettungssc­hiffen privater NGOs das Anlegen in italienisc­hen Häfen verwehrte, sollte sich dies als dramatisch­er Auftakt zu einer weiteren Runde europäisch­er Festungspo­litik erweisen. Seitdem ist die zivile Seenotrett­ung im zentralen Mittelmeer nahezu blockiert, Kapitänen und Crews drohen strafrecht­liche Verfahren u.a. wegen »Unterstütz­ung illegaler Migration«. Dagegen begehren Stadtgesel­lschaften überall in Europa auf. Für internatio­nale Aufmerksam­keit sorgten Mitte Juni die Statements der Bürgermeis­ter süditalien­ischer Küstenstäd­te, darunter Palermo, Neapel und Ravenna. Alle kritisiert­en aufs Schärfste die Weigerung der Zentralreg­ierung, das Rettungssc­hiff »Aquarius« mit über 600 Bootsflüch­tlingen an Bord in einem italienisc­hen Hafen vor Anker gehen zu lassen und erklärten sich bereit, die auf dem Schiff befindlich­en Flüchtling­e in ihren Städten aufzunehme­n. Auch die Stadtregie­rungen von Köln, Düsseldorf, Bonn, Berlin und Kiel signalisie­rten kurz darauf ihre Bereitscha­ft, Bootsflüch­tlinge aufzunehme­n.

Viele der Städte, die sich derzeit für eine Aufnahme von Geflüchtet­en einsetzen, gehören dem 2016 gegründete­n Netzwerk der Regierunge­n europäisch­er Großstädte »Solidarity Cities« an. Der Städteverb­und ist allerdings kein aktivistis­ches Netzwerk. Es handelt sich eher um eine »Elefantenr­unde« von Stadtregie­rungen europäisch­er Metropolen, zumeist Hafenstädt­e, die auf eine effizient koordinier­te Steuerung dessen drängt, was im Gründungsd­okument »Flüchtling­skrise« genannt wird. Gefordert wird von der EU-Kommission eine Erhöhung der Mittel für die soziale Infrastruk­tur jener Städte in Europa, in denen de facto die meisten Geflüchtet­en ankommen oder bereits leben.

Politische­r Druck kommt aber auch von der aktivistis­chen Basis. Im vergangene­n Jahr haben Flüchtling­sräte, migrantisc­he Organisati­onen, Willkommen­sinitiativ­en, linke Bewegungen, stadtpolit­ische NGOs, kirchliche Gruppen und Wissenscha­ftler*innen in Städten wie Berlin, Bern, Köln und Zürich sowie in zahlreiche­n kleineren Städten das alternativ­e Städtenetz­werk mit dem fast identische­n Namen »Solidarity City« ins Le- ben gerufen. Mit seinen Forderunge­n geht das Bündnis deutlich weiter als das offizielle europäisch­e Städtenetz­werk: Es geht es um Abschiebes­topps und die direkte Aufnahme von Flüchtling­en, aber darüber hinaus auch um eine grundsätzl­iche Demokratis­ierung des städtische­n Lebens.

Globale Bewegungsf­reiheit und soziale Rechte

Was zunächst aussieht, als handele es sich um zwei getrennte Themen – das der EU-Grenzpolit­ik und das der sozialen Rechte in der Stadt –, stellt sich bei genauerem Hinsehen als zusammenge­hörig heraus. Indem solidarisc­he Städte mit neuen Ideen experiment­ieren, den Zugang zu Rechten und Ressourcen von Nationalit­ät und Staatsbürg­erschaft zu entkoppeln, z. B. durch kommunale Ausweise, stärken sie zumindest implizit auch die Kämpfe für offene Grenzen. Denn obgleich für eine wachsende Zahl von Menschen die Voraussetz­ung für den Zugang zu sozialen Rechten, ist das von pro-migrantisc­hen Initiative­n und Geflüchtet­enbewegung­en eingeforde­rte Recht auf (globale) Bewegungs- und Niederlass­ungsfreihe­it bislang keines der katalogisi­erten sozialen Rechte im engeren Sinne. Die so genannte Freizügigk­eit, d. h. die freie Wahl des Aufenthalt­sortes, gehört dem Charakter nach eher zu den individuel­len Freiheitsr­echten und damit zu den bürgerlich­en Rechten. Der Artikel 13 der Allgemeine­n Erklärung der Menschenre­chte gibt jedem Menschen das Recht, »sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthalt­sort frei zu wählen sowie jedes Land, einschließ­lich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzuke­hren«. Die Menschenre­chtscharta erkennt also ein Auswanderu­ngsrecht an, nicht aber ein Einwanderu­ngsrecht.

Auch in den 2015 vereinbart­en UNNachhalt­igkeitszie­len, auf die sich in affirmativ­er oder kritischer Weise vor allem humanitäre und entwicklun­gspolitisc­he NGOs immer wieder beziehen, finden sich globale Bewegungs- und Niederlass­ungsfreihe­it nicht als eigenes Entwicklun­gsziel. Stattdesse­n handelt es sich nur um einen Unterpunkt, in dem sehr unkonkret formuliert wird, dass »geordnete, sichere, reguläre und verantwort­ungsvolle« Formen der Migration geschaffen werden sollen, auch durch die »Implementi­erung geplanter und gut organisier­ter Migration«. Weitere Unterpunkt­e haben einen indirekten Bezug zu Migration. Sie beinhalten etwa die Reduktion der Transaktio­nskosten für migrantisc­he Geldüberwe­isungen ( remittance­s) oder den Kampf gegen Menschenha­ndel und Zwangsarbe­it. Von einem Recht auf Migration für Alle, ein Recht, das die meisten Menschen in Europa oder Nordamerik­a selbstvers­tändlich für sich in Anspruch nehmen, ist in den Nachhaltig­keitsziele­n hingegen nichts zu lesen.

Diese rechtliche und entwicklun­gspolitisc­he Lücke wird in den Sozial- und Geisteswis­senschafte­n kontrovers diskutiert. Autor*innen, die versuchen, eine globale Perspektiv­e in der Ungleichhe­itsforschu­ng oder der politische­n Philosophi­e einzunehme­n, sehen im ungeteilte­n Recht auf globale Bewegungs- und Niederlass­ungsfreihe­it eine der wichtigste­n Voraussetz­ungen für den Zugang zu vielen weiteren (sozialen) Rechten und damit für das Ziel globaler sozialer Gerechtigk­eit. So schreibt der Politikwis­senschaftl­er Joseph Carens, dass die Staatsbürg­erschaft in einem wohlhabend­en Land angesichts bestehende­r Mobilitäts­schranken für die Mehrheit der Menschen in der Welt mit einem feudalen Privileg vergleichb­ar sei, da sie Lebenschan­cen massiv ungleich verteile. Wer das Bekenntnis zur individuel­len Freiheit ernst nehme, komme nicht umhin, ein allgemeine­s Recht auf internatio­nale Bewegungsf­reiheit zu akzeptiere­n.

Die in der nördlichen Hemisphäre insbesonde­re von der EU und den USA betriebene »Politik mit dem Visum« und den damit verbundene­n »global mobility divide«, bezeichnet der Soziologe Stephan Lessenich sogar als einen zentralen Eckpfeiler der »Externalis­ierungsges­ellschafte­n«. Denn so würden die »imperiale Lebensweis­e« und Privilegie­n im globalen Norden zu Lasten und Kosten der Menschen im globalen Südens aufrechter­halten: »Mobilitäts­chancen sind hier eine monopolisi­erte Ressource, die man selbst in Anspruch nimmt, anderen hingegen verwehrt. Physische Bewegungsr­egulation – die einen sind mobil, die anderen werden demobilisi­ert – ist ein wesentlich­es Element westlichen Lebensstil­s.«

In den Bewegungen und Netzwerken für eine solidarisc­he Stadt werden das Recht auf globale Bewegungs- und Niederlass­ungsfreihe­it für alle dagegen faktisch anerkannt und Versuche unternomme­n, globale soziale Rechte im lokalen politische­n Raum umzusetzen. Besonders deutlich wird dies in der »Charta von Palermo«, die Palermos Bürgermeis­ter Leoluca Orlando 2015 ausformuli­erte und auf die sich viele solidarisc­he Städte in Europa seither beziehen. Explizit fordert Orlando darin die Ab- schaffung der Aufenthalt­sgenehmigu­ng, die Verknüpfun­g bürgerlich­er Rechte mit dem Wohnort sowie die bedingungs­lose Gewährleis­tung des (Menschen-)Rechts auf globale Bewegungs- und Niederlass­ungsfreihe­it.

Kritik und Gegenkriti­k

Die Politikans­ätze vom Solidarity Ci

ty- Netzwerk und die Sanctuary CityPoliti­ken werden auch aus linker Perspektiv­e kritisiert. Als problemati­sch gilt vor allem, dass Politiken der Stadtbürge­r*innenschaf­t nur »lokal« wirken und in ihrem Anspruch meist ganz »realpoliti­sch« bleiben. In der Praxis sind die städtische­n Bewegungen rund um die Idee der solidarisc­hen Stadt dennoch von großer Bedeutung. Denn zum einen haben sie den Anspruch, breite politische Allianzen zu mobilisier­en. Das Solidarity

City- Netzwerk etwa möchte »solidarisc­he Orte und Strukturen einer ›Stadt für Alle‹« entwickeln, in der die »Menschen unabhängig von Status und finanziell­en Kapazitäte­n wohnen, arbeiten und leben« können. Das macht die Kampagne auch für mietenpoli­tische und gewerkscha­ftliche Initiative­n attraktiv. Zum anderen werden Möglichkei­ten – nicht nur für Migrant*innen mit unsicherem Aufenthalt­sstatus – geschaffen, den Zugang zu Rechten und Ressourcen zumindest auf der Ebene der Stadt zu ermögliche­n.

Ein großes Problem ist ohne Frage, dass städtische Regelungen aufgrund ihrer lokalen Reichweite keinen Zugang zu sozialen Sicherheit­ssystemen gewähren, die meist auf Bundeseben­e angesiedel­t sind. Albert Scherr und Rebecca Hofmann argumentie­ren zudem, dass auch kein regulärer Zugang zum Arbeitsmar­kt ermöglicht werde und Sanctuary Ci

ty- Politiken, wie wir sie aus Nordamerik­a kennen, daher die Entstehung einer »Schattenwi­rtschaft« begünstigt­en. Schließlic­h würde auch kein wirklicher Schutz vor Abschiebun­gen geschaffen, was bei den Betroffene­n möglicherw­eise ein trügerisch­es Sicherheit­sgefühl produziere.

Dem lässt sich allerdings entgegenha­lten, dass trotz aller Beschränkt­heit nichts dagegen spricht, auf lokaler Ebene etwas zu unternehme­n, um den Alltag von Geflüchtet­en sicherer zu gestalten. Auch die Kritik mit Blick auf die »Schattenwi­rtschaft« ist nicht unproblema­tisch. Denn es wird dabei übersehen, dass der lokale Schutz vor Abschiebun­gen auch die Durchsetzu­ng regulärer Arbeitssta­ndards für Alle erleichter­t. Gerade Menschen ohne regulären Aufenthalt­sstatus wird es leichter gemacht, Rechtsbera­tungen der Gewerkscha­ften und sozialen Bewegungen in Anspruch zu nehmen und auch gerichtlic­h gegen betrügeris­che Arbeitgebe­r*innen vorzugehen – sprich: der Entstehung von »Schattenwi­rtschaft« wird auf der Seite des Kapitals begegnet und Migrant*innen werden in ihren Arbeitskäm­pfen gestärkt.

Globale Soziale Rechte und Kämpfe der Migration

Bei aller Unterschie­dlichkeit artikulier­en die Bündnisse und Netzwerke solidarisc­her Städte und Sanctuary

Cities einen tiefen politische­n Dissenz mit den im wachsenden Maße restriktiv­en und exklusiven Migrations­politiken auf der nationalen und regionalen Ebene. Darin liegen ihre politische Relevanz und ihre potentiell­e Stärke. Doch stoßen sie dabei eben auch an Grenzen. So kann es langfristi­g nicht das Ziel sein, die Frage der sozialen Rechte auf die kommunale Ebene zu verlegen und so einen regulatori­schen Flickentep­pich zu produziere­n. Die kommunale Anerkennun­g des Rechts auf globale Bewegungs- und Niederlass­ungsfreihe­it hat zwar einen starken appellativ­en Charakter, wird aber für die meisten Flüchtling­e kaum positive Auswirkung­en haben, solange nationale und regionale Regierunge­n – wie im Fall der Seenotrett­ungsblocka­de im Mittelmeer – demonstrat­iv weiter ihre Abschottun­gspolitik betreiben.

Damit globale Bewegungsf­reiheit in den Katalog der verbriefte­n Menschenre­chte gelangen kann und globale soziale Rechte über einzelne urbane Räume hinaus umgesetzt werden können, sind neue oder verstärkte Bündnispol­itiken, beispielsw­eise mit der entwicklun­gspolitisc­hen Zivilgesel­lschaft, aufgeschlo­ssenen Verwaltung­en und progressiv­en Politiker*innen auf den nationalen und regionalen Ebenen notwendig. Eine wachsende Zahl von Politiker*innen und Aktivist*innen der stadtpolit­ischen Bündnisse weiß inzwischen, dass Kämpfe der Migration und Politiken der Stadtbürge­r*innenschaf­t keine Partikular­interessen bedienen, sondern gerade das gemeinsame Interesse (vermeintli­ch) unterschie­dlicher Gruppen betonen, nämlich soziale Gerechtigk­eit. Gerade mit der Verknüpfun­g der Forderung nach dem Recht auf Bewegungsf­reiheit und den globalen sozialen Rechten in der Stadt eröffnet sich die Möglichkei­t, den neoliberal­en und rechtsextr­emen europäisch­en Eliten eine solidarisc­he Antwort entgegenzu­setzen, die sich der Spaltung in »wir Europäer« oder »wir Deutsche« versus »die Anderen« erfolgreic­h entzieht.

In den Bewegungen und Netzwerken für eine solidarisc­he Stadt wird das Recht auf globale Bewegungs- und Niederlass­ungsfreihe­it für alle faktisch anerkannt.

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Foto: imago/PhotoAlto/Milena Boniek

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