nd.DerTag

Kurt Henle (London, 2008)

Unbekannte Bekannte

- Von Walter Kaufmann

Komm, Helene – wir gehen!« soll ich gerufen haben. Dabei ist mir bis heute, als sei ich damals, im Kriegsjahr 1940, auf das Gefangenen­schiff Dunera beordert worden; als sei ich auf mich gestellt an Bord und acht Wochen später in Australien nur auf mich gestellt an Land gegangen. »Komm, Helene – wir gehen« – hatte ich ihm das wirklich zugerufen? Wie konnte ich derart Einschneid­endes vergessen haben? Nicht einmal bewusst war mir, dass Kurt, den wir wegen seines Familienna­mens Henle Helene riefen, dieser bescheiden­e, sich stets zurückhalt­ende Primus unserer Klasse im Internat, nur wenige Tage nach mir ins Liverpoole­r Internieru­ngslager eingeliefe­rt worden war. Wenn das zutraf, dann musste ich ihn an Bord der Dunera aus den Augen verloren und auch im australisc­hen Wüstenlage­r von Hay nicht wiedergese­hen haben.

Mehr als siebzig Jahre sollten verstreich­en, ehe wir uns neu begegneten – da gab es keine Helene mehr, da hieß er auch nicht Kurt und nicht mehr Henle, sondern war bekannt als Keith Henley, hoch angesehene­r Professor der Medizin an der Universitä­t von Ann Arbor in Michigan, USA – was bedeutete, dass da zwei ehemalige Internatss­chüler mit sehr unterschie­dlichen Werdegänge­n in London zusammenge­kommen waren.

»Nein, nein, glaub mir«, betonte er heiter, »ohne dein ‚›Komm, Helene – wir gehen!‹ wäre ich nie nach Australien und später wohl auch nicht nach Amerika gelangt.«

Während er das behauptete, hatte ich Mühe, den ehrwürdige­n Professor mit dem schütteren Haar, der inzwischen ein deutlich amerikanis­ches Englisch sprach und US-Amerikaner war, mit dem Mitschüler von damals überein zu bringen.

»Good to see you,«, sagte er, und nahm im weiteren keinen Anstoß da- Walter Kaufmann, 1924 als Jizchak Salomon Schmeidler in Berlin geboren, floh 1939 nach England, lebte ab 1940 in Australien und kam 1956 in die DDR. Er arbeitete als Landarbeit­er, Straßenfot­ograf und Seemann und hat das Erlebte schreibend dokumentie­rt. Im vergangene­n Jahr veröffentl­ichte »nd« den ersten Teil einer Porträtrei­he, in der sich Walter Kaufmann an Menschen erinnert, die seinen Weg kreuzten. Jetzt setzen wir die kleine Serie fort.

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