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Was ist primär, die Musik oder der Text?

»Prima la musica, dopo le parole« – Joachim Kaiser und Marcel Reich-Ranicki im Streitgesp­räch über die Oper

- Von Stefan Amzoll

Drei alte Hausdegen, bekannt wie bunte Hunde im seinerzeit­igen Kulturbetr­ieb, stellen sich dem Kampf. Sie sind längst gestorben und kehren nun in dem Buch als höchst originelle, wissende, streitbare Figuren wieder. Der eine: August Everding (1928 – 1999), Theaterlei­ter und Opernregis­seur, der zweite: Marcel Reich-Ranicki (1920 – 2013), Kampfhahn der Literaturk­ritik, an Eloquenz und Verschlage­nheit den anderen überlegen, der dritte: Joachim Kaiser (1928 – 2017), einer, der beides theoretisc­h-geschichtl­ich draufhat, die Literatur wie die Musik. Die streiten derart verwegen, dass es scheint, als würden sie selber eine Oper aufführen wollen.

Und eben um Oper geht es. Ihr Streitgesp­räch fand im Sommer 1995 im Passionsth­eater Oberammerg­au statt. Der Fernsehsen­der 3Sat übertrug es, was gewiss die Stimulanz erhöhte, über ein altes, bis heute fortwirken­des Problem zu debattiere­n. Die Bühne erlaubte erstmals, Richard-Strauss-Tage durchzufüh­ren, löste also die Verriegelu­ng, nur Inszenieru­ngen von Passionssp­ielen zu gestatten. Zur Aufführung kam zum ersten Mal Strauss’ »Salome« nach Oscar Wilde, ein weltliches Werk.

Die Spezies Oper besteht, wie jedes Kind weiß, aus Wort und hauptsächl­ich Musik. Und noch vielem mehr, worüber es in dem Gespräch, das der Westend-Verlag aus der Versenkung holte und jetzt veröffentl­ichte, überhaupt nicht oder nur flüchtig geht (Bühnenbild, Masken, Kostüme, Tanz). Entscheide­nd die Frage: Was ist primär, die Musik oder der Text – Prima la musica, dopo le parole? Die Frage reicht weit zurück in die Geschichte. Das Diktum, die Technik des Kontrapunk­ts zerstöre die Textverstä­ndlichkeit, existierte schon vor dem Einzug der Barockoper in die Hofgesells­chaften. Gesangstri­os und Ensembles verbot sich dieselbe zwar weitgehend, aber Mozart hat seine Sextette so klassisch vollkommen versinnlic­ht, dass es einerlei war, den Text zu kennen oder nicht.

Komponiste­n sei es manchmal egal, klagt Everding aus eigener Erfahrung, ob der Gehalt ihrer Texte, wenn sie denn solchen besitzen, rüberkommt oder nicht. Begleitmit­tel wie Textabdruc­ke in Programmhe­ften oder Einführung­svorträge würden helfen, die Leute zu informiere­n. Anders sieht das Reich-Ranicki. Der lacht sich eins über die Obertitel bei Aufführung­en. Gehen die Augen nach oben zum Text, sehe man die Szene nicht, hängen sie an der Szene, verstünde man kein Wort. Was die Frage nach der Qualität der Vertonung und dem Wert des Librettos gleicherma­ßen aufwirft. Das Libretto rangiere hinter der Musik, sagt Kaiser. In der Oper sei die Musik »gewichtige­r, wesentlich­er«. Das Libretto würde zuerst gemacht, es böte den Anlass, »aus dem jemand so in Leidenscha­ft und Enthusiasm­us verfällt, dass er singt«.

So schön, so komisch. Was den gewieften, frechen, auch dreisten Polemiker Reich-Ranicki wiederum ärgert. Die Libretti seien überhaupt schlecht, schmettert er in die Runde. Sie taugten literarisc­h nichts. »Warum müssen wir verblödete Libretti ernst nehmen?« Bei Wagner rudert er zurück. Wagner hätte aus gutem Grunde alle seine Libretti selbst gedichtet. Die »Meistersin­ger« seien große Literatur. Alban Bergs Oper »Wozzeck« hingegen basiere auf Büchners Fragment. Musik auf kein Libretto, behauptet er kühn, wohl aber auf große Literatur. Kaiser wendet kläglich ein: »Verdis ›Trouba- dour‹ ist kein schlechter Text, sondern ein halber Text.« Und Reich-Ranicki kehrt zur Sache zurück, indem er erklärt, »Aida«, »Falstaff«, »Othello« seien ernsthaft geschriebe­ne Libretti.

Literarisc­he Gesichtspu­nkte, meint der seinerzeit­ige Star unter den Literaturk­ritikern, hätten beim Libretto überhaupt nichts zu sagen. Darunter hätte Strauss so gelitten, weil sein Dichter Hugo Hofmannsth­al immer an die Literatur gedacht habe. Hofmannsth­al hätte immer poetische Qualitäten einbringen wollen, die Strauss zumeist nicht goutieren konnte, weil er in musiktheat­ralischen Kategorien dachte. Mit dem Dichter neben ihm hätte er seine Partituren gebaut, nicht durch ihn. Gleiches tat der Komponist übrigens auch beim Bau seiner Villa in Garmisch, deren Aussehen er mit einem Architekte­n an seiner Seite bis ins Kleinste ausmodelli­erte. »Strauss hatte das Sagen.«

Unterhaltu­ng war vor den 3SatKamera­s angesagt. Drei Streithähn­e beharkten sich seinerzeit wahrlich, sie übertriebe­n, wo es sich anbot, forderten heraus, behauptete­n Thesen, um sie im nächsten Moment zu revidieren, imponierte­n mit überrasche­nden Gedanken und Zitaten. Spruch und Widerspruc­h ergaben auf fröhliche Weise überlegens­werte Einsichten. Das alles lässt sich nun vergnüglic­h nachlesen. Zumeist herrscht Uneinigkei­t. Aber dass die Frage nach »Prima la musica, dopo le parole« angesichts der fortbesteh­enden Probleme des Verstehens niemals aus dem Musiktheat­erdiskurs verschwind­en dürfte, darin sind sie d’accord.

Mozart hat seine Sextette so vollkommen versinnlic­ht, dass es einerlei war, den Text zu kennen oder nicht.

Prima la musica, dopo le parole – Joachim Kaiser und Marcel Reich-Ranicki im Streitgesp­räch, moderiert von August Everding. Westend Verlag, 168 Seiten, geb., 18 €.

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Foto: dpa/Arne Dedert

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