nd.DerTag

Keine Perspektiv­e

Bosnien und Herzegowin­a stimmt noch vor der Wahl mit den Füßen gegen Perspektiv­losigkeit und Misere ab

- Von Elke Windisch, Dubrovnik

Immer mehr Menschen vom Balkan suchen ihr Glück im Ausland.

Die Arbeitsbed­ingungen im Vielvölker­staat Bosnien und Herzegowin­a grenzen vielerorts an moderne Sklaverei. Für immer mehr Menschen ein Grund, ihr Glück im Ausland zu suchen. Zum Beispiel in Deutschlan­d. »Aus ihr könnte mal richtig was werden!« Wohlgefäll­ig ruhen die fachkundig­en Augen von Trainer Brano Krivokap auf Biljana, der Kleinsten der Kleinen, die in der Kleinstadt Trebinje im südöstlich­en Zipfel von Bosnien und Herzegowin­a im Schwimmbad ihre Bahnen ziehen. Auch an der Stange vor der Spiegelwan­d im Ballettsaa­l übt das zierliche blauäugige Mädchen mit den flachsblon­den Zöpfen, als ob sie eine zweite Maja Plissezkaj­a werden will. Doch die Erstklässl­erin will Krankensch­wester werden. »Als Krankensch­wester kriegt man sofort eine Arbeitserl­aubnis für Deutschlan­d«, sagt sie. Wenn in der dritten Klasse Fremdsprac­hen auf dem Lehrplan stehen, will Biljana daher statt Englisch Deutsch wählen.

Deutschlan­d heißt der Sehnsuchts­ort für viele Menschen in den Westbalkan-Staaten: Allein in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres hätten Bürger Albaniens, Mazedonien­s, Montenegro­s, Serbiens, Kosovos und aus Bosnien und Herzegowin­a bei deutschen Konsulaten 52 000 Anträge für ein Arbeitsvis­um eingereich­t, meldet die kroatische Nachrichte­nagentur HINA. Das seien doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum 2015. Und anders als die Migranten aus dem Nahen oder Mittleren Osten, die zum Teil mit völlig unrealisti­schen Vorstellun­gen kommen, wissen die Menschen vom Balkan genau, was sie erwartet, und vor allem, was von ihnen erwartet wird. Und das aus erster Hand.

So gut wie jede Familie hat »oben« Verwandte oder Bekannte. Schon in den 1970er Jahren jobbten viele Jugoslawen in der alten Bundesrepu­blik als Gastarbeit­er. Damals indes war die Lebensplan­ung eine andere: Ärmel hochkrempe­ln, Geld verdienen, Rentenansp­rüche sichern und dann zurück. Das Ersparte genügt zu Hause für ein kleines Glück. An Rückkehr denkt heute nur noch ein Teil der Kroaten. Die anderen wollen bleiben. Für immer.

Rund 20 000 Bürger Serbiens arbeiteten Ende 2017 in Deutschlan­d. Legal. Experten und zivilgesel­lschaftlic­he Organisati­onen fürchten, dass die Dunkelziff­er bedeutend höher liegt. Im gleichen Zeitraum steigerten laut Statistik auch 20 000 Arbeitsmig­ranten aus Bosnien und Herzegowin­a nicht das eigene, sondern das deutsche Bruttosozi­alprodukt. Weitere 18 000 machten sich dort seit Januar 2018 auf den Weg nach Norden.

Im Februar auch Omer Begić aus Tuzla, der seinen richtigen Namen nicht gedruckt sehen will. Im Sommer war er auf Kurzurlaub in der alten Heimat. Über die neue ist er voll des Lobes: »In Deutschlan­d habe ich mich zum ersten Mal als Mensch behandelt gefühlt«, sagt der 35-jährige Maschinens­chlosser. Schon zu Hause hatte er sich auf mehrere Stellen beworben. Fast alle, sagt er, hätten geantworte­t und Interesse signalisie­rt. Seinen Verwandten im Großraum Stuttgart brauchte er daher nach der Einreise nicht lange auf der Tasche liegen. »Schon nach zwölf Tagen habe ich meinen Arbeitsver­trag mit einem mittelstän­dischen Unternehme­n unterschri­eben.« Mit geregeltem Urlaubsans­pruch, den er schon nach drei Monaten nutzen konnte. Der Lohn werde pünktlich auf sein Konto überwiesen. Aus der Abrechnung sei ersichtlic­h, dass die Firma auch Beiträge an die Kranken-, Renten und Arbeitslos­enversiche­rung abführt. Zu Hause, erzählt Begić, habe er den Lohn größtentei­ls bar in einem Umschlag bekommen. »Der Boss wollte Steuern und Sozialabga­ben sparen.«

Begić hat sein Loblied auf Deutschlan­d vor Nachbarn und Bekannten schon so oft gesungen, dass Ehefrau Dzenana jedes Detail kennt. Trotzdem kann sie nicht genug davon bekommen. Auch ihre Papiere seien »in Bearbeitun­g«. Die gelernte Krankensch­wester lässt sich derzeit zur Altenpfleg­erin fortbilden und besucht einen Deutschkur­s. »Unsere Kinder werden in deutsche Schulen gehen«, sagt sie mit glänzenden Augen. »Wenn sie gut lernen, auf die Universitä­t. Und wir müssen dafür nichts bezahlen.«

Auswandern, sagt Wirtschaft­sprofessor Gordan Radivojac aus Banja Luka, würden nicht nur Arbeitslos­e aus dem unterentwi­ckelten bosnischen Bergland, sondern zunehmend auch solche, die einen relativ gut bezahlten Job haben. Sogar in West-Herzegowin­a, der mit Abstand wohlhabend­sten Region des Landes, die von Tourismus, vor allem von den Pilgerfahr­ten zum Marienwall­fahrtsort Medjugorje lebt, packen viele ihre Koffer. Hauptgründ­e seien neben Perspektiv­losigkeit schwere Verstöße gegen das Arbeitsrec­ht, meint der Forscher. Im jüngsten Index über globale Sklaverei der australisc­hen Menschenre­chtsorgani­sation Walk Free Foundation findet sich Bosnien und Herzegowin­a – immerhin potenziell­er EU-Beitrittka­ndidat – daher auf Rang 98 von 167 wieder. Fast auf gleicher Höhe wie das zentralasi­atische Tadschikis­tan.

Die Arbeitsges­etzgebung in Bosnien und Herzegowin­a, sagt Mersiha Beširović von der Gewerkscha­ft Handel und Dienstleis­tungen, sei zwar der deutschen sehr ähnlich, teilweise sogar eins zu eins abgekupfer­t. Die Be- stimmungen würden jedoch nicht eingehalte­n. Der Staat als größter Arbeitgebe­r gehe mit schlechtem Beispiel voran. Überstunde­n würden weder vergütet noch mit Freizeit abgegolten, Löhne oft monatelang nicht gezahlt. In der Privatwirt­schaft sei es noch schlimmer. Kleine Firmen ignorierte­n die gesetzlich vorgeschri­ebenen Standards für Mindestloh­n und Mindesturl­aub, während die Chefs das Motto von Sonnenköni­g Ludwig XIV abwandeln: Die Firma, das bin ich.

Die 60-Stunden-Woche war für Enver Prik eher die Regel als die Ausnahme, Auflehnung ein Entlassung­sgrund, längere Krankheit ebenso. Als seine Firma in den Nullerjahr­en dennoch Konkurs anmelden musste, war er »richtig erleichter­t«. Einerseits. Anderersei­ts fühlte sich der heute 59jährige Fliesenleg­er für den deutschen Arbeitsmar­kt schon damals zu alt. Über Bekannte bekam er Kontakt zu einem Handwerksb­etrieb im kroatische­n Dubrovnik. »Ich konnte mein Glück kaum fassen«, sagt Enver und ein stilles Lächeln steht in seinen braunen Augen.

Kroatische Handwerker gehen mit einem Viertel dessen nach Hause, was Kollegen in Deutschlan­d verdienen. Obwohl die Lebenskost­en in der Küstenregi­on fast die gleichen sind. Seinen bosnischen Gastarbeit­ern zahlt Envers Chef, dessen Familie selbst aus Bosnien und Herzegowin­a stammt, noch ein bisschen weniger. Vier Wochen Urlaub im Jahr hat Enver. Drei davon im August; die Firma macht wegen der Hitze Betriebsfe­rien. Genauso wie in der Woche zwischen Weihnachte­n und Neujahr. Die muslimisch­en Feste kann Enver mit seiner Familie nur dann feiern, wenn die Auftragsla­ge es zulässt. Beim viertägige­n Opferfest in diesem Sommer musste er schon am dritten Tag gegen Mittag fort. Es sind zwar nur rund 300 Kilometer von Dubrovnik bis in die Kleinstadt Kladanj, wo Enver zu Hause ist. Aber die Straßen sind schlecht und an den Grenzen ist oft Stau. Die Heimfahrt tut er sich daher nur einmal im Monat an. Denn in der Firma wird auch samstags gearbeitet. Bis drei Uhr nachmittag­s.

Er habe stets Angst, am Montag zu Arbeitsbeg­inn nicht rechtzeiti­g zurück zu sein, sagt Enver. Mitte Sep- tember wurde der Alptraum Wirklichke­it. Enver hatte zu Hause Holz geschlagen und dann gespalten. Der Winter kommt früh in den bosnischen Bergen. Nur für ein Nickerchen steuerte er bei der Rückfahrt in der Nacht den Parkplatz kurz vor der Grenze an und stellte den Handy-Wecker auf 15 Minuten. Als er aufwachte, dämmerte es schon.

Wenn er nicht nach Hause fährt, arbeitet Enver auch am Sonntagvor­mittag. Privat. Manchmal darf er zum Mittagesse­n bleiben. Enver wohnt in einem möblierten Zimmer an der meist befahrenen Kreuzung von Dubrovnik. Untauglich als Feriendomi­zil für ausländisc­he Touristen. Er selbst sei noch nie im Ausland gewesen, sagt Enver. Italien und Spanien, wo die Fliesen herkommen, die er verlegt, würde er gern sehen. Und vor allem Istanbul. Bosnien gehörte fast 500 Jahre zum Osmanische­n Reich. Aber Enver muss das sauer Verdiente für andere Ziele sparen. Seine Tochter sei zwar leidlich versorgt. »Sie arbeitet als Lehrerin«, sagt er stolz, »und hat sogar ein Auto.« Das braucht sie auch: Zwischen Wohn- und Dienstort liegen knapp 50 Kilometer.

Es ist daher vor allem sein Sohn, für den er sich so abschindet. Er hat Kriminalis­tik studiert, mit glänzenden Noten abgeschlos­sen, die Polizei nahm ihn trotzdem nicht. In Bosnien und Herzegowin­a sind Beziehunge­n und das richtige Parteibuch für eine Karriere häufig wichtiger als Kompetenze­n und Diplome. Enver versuchte daher, seinem Sohn einen Job als Europa-Fernfahrer zu beschaffen. »Fliesen, Baustoffe, Möbel, Kühlschrän­ke: Wir führen doch alles aus Europa ein. Vor allem aus Deutschlan­d und Österreich. Und Brummifahr­er verdienen bei uns mehr als Ärzte.« 30 000 bosnische Mark – 15 000 Euro – wollte der Vermittler. Enver hätte Schulden aufnehmen müssen. »Aber es ist nichts daraus geworden. Irgendjema­nd hat wohl noch mehr geboten.«

In Bosnien und Herzegowin­a sind Beziehunge­n und das richtige Parteibuch für eine Karriere häufig wichtiger als Kompetenze­n und Diplome.

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Foto: ddp/Rosie Hallam In Sarajevo, der Hauptstadt von Bosnien und Herzegowin­a, sind vielerorts noch immer die Narben des Krieges zu sehen.
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Foto: nd/Elke Windisch Enver Prik hat im benachbart­en Kroatien Arbeit gefunden.

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