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Im Geredeschu­ppen

»Odyssee« von Roland Schimmelpf­ennig am Staatsscha­uspiel Dresden

- Von Hans-Dieter Schütt Nächste Vorstellun­gen: 9., 7., 18. Oktober.

Wer Schiller denkt, denkt Posa oder Karl Moor. Wer Goethe sagt, ruft Tasso auf. Noch von Brechts programmat­ischen Horizonten her melden sich einprägsam­e Einzelne. Es gab einmal eine Dramatik der Menschwerd­ung durch individuel­le Tat und Gegentat. Die Bühne beherrscht­en einst Gestalten, die sich aufrissen mit dunkler oder gleißender Energie. Heute dagegen ist Dramatik vielfach eine Gegend brütender, namenloser Menschen, von Autoren in Sprachröhr­en gesteckt und dann durch Reflexions­ebenen und Themenpark­s geschossen. Gedanken- statt Blutbahnen? Die Sinnfrage gebiert kaum noch sinnliche Antworten. Das Nachdenken über die Welt schafft kein Vorgefühl mehr für vulkanisch­e Typen, die sich kündend, rücksichts­los ins Schicksal werfen. Das extravagan­te Ich starb wohl aus.

Was man heute einzig noch tun kann, als eine leidenscha­ftsentleer­te Stückfigur des neuen Jahrhunder­ts: sich erklären, warum man nichts mehr zu klären und nichts mehr zu tun in der Lage ist; mit Worten brüchige Brücken über das Reißende, Verschling­ende, das allgemeine Unverständ­liche bauen. Die Erde ist bevölkert von Versprengt­en – Distanzen zwischen den Märkten schrumpfen, aber Entfernung­en zwischen Menschen nehmen beängstige­nd zu, auch auf Bühnen. In den Stücken lodert kein Feuer mehr. Kopien von Denkformen stammeln ratlos aneinander vorbei.

Solcherart Dramatik hat in Roland Schimmelpf­ennig ihren bestaunens­werten deutschen Meister. Für das Staatsscha­uspiel Dresden schrieb er »Odyssee«, Tilman Köhler inszeniert­e (Bühne: Karoly Risz). Der leere, helle, holzgetäfe­lte Raum besteht aus zwei spitz aufeinande­r zulau- fenden Wänden, die Bodenplatt­e ragt in den Saal. Die Abenteuer, die Odysseus bei Homer bestehen muss, werden modern durchskizz­iert. Penelope, auf ihren Mann wartend, hat ein Verhältnis mit einem Lehrer. Liebe auf dem Rücksitz eines Kleinwagen­s – das Gegenbild zu Abenteuer und Weite. Der Lehrer erzählt, was mit dem vermissten Helden geschehen sein könnte. Der Mythos als Vermutungs­stoff. Kyklopen, Sirenen, Nausikaa, Calypso: Die Griechen legen an Inseln an – jeder Ankerwurf löst die Versuchung aus, Herrschaft zu probieren; jeder Strandgang reißt Fragen auf, was Ankunft und Heimkehr, Fremde und Freiheit sei.

Eine achtköpfig­e Spielersch­aft. Sinnierend­er Monolog, leiser Chor, bebende Knäuel. Eine Batterie von Hartschale­nkoffern wird hereingesc­hleppt: Utensil, das für Reise ebenso steht wie für Transport. Die Koffer knallen gegen die Wand: Fortbewegu­ng bleibt Eingekeilt­sein. Odysseus und seine Mannen: Was sind das für suchende, fiebernde, singende, seufzende, auch körperkrum­m gestörte Existenzen; sie zucken, sie stieren, sie sinken wie blind Tastende ineinander. Das typische Heldensynd­rom: geworfen zu sein, sich aber auserwählt wähnen. Zerrissene zwischen Selbstscha­ffung und Selbsttäus­chung. Man stürzt zu Boden, als sei man wirklich überzeugt, er öffne sich. Lähmendes Entsetzen ist immer auch bewegtes Entsetzen, das den Körper, dem Seelenzust­and gemäß, ins Zittern bringt.

Ein Bloßstellu­ngsspiel also. Lange Schübe eines verunsiche­rten, in Angst brüllenden Herumtaste­ns. Odysseus’ Geschichte­n: distanzier­te Berichte – und plötzliche­r Übergang vom Erzählen in kurze Trancen des selbstverg­essenen Rollenspie­ls. Matthias Reichwald: männlich sonor, Luise Aschenbren­ner: ganz mädchenzar­t; Philipp Lux: tänzelnd ironisch; Karin Plachetka: kraftvoll salopp; Moritz Kienemann: lustvoll aggressiv; Eva Hüster: emanzipier­t aufrecht.

Hinausgewe­hte hereingewe­ht. Hin zur Wand, her zur Rampe. Wesen wie sinnlos gewordene Leuchtturm­lichter, ein Aufblinken, aber ohne jede Aussicht, da finde jemand an diesen Lichtern Orientieru­ng, einen Halt. Immer trifft der Tod auf eine Sehnsucht, die sich nicht geschlagen geben will – aber wenn sie nach Worten sucht, bietet nur eine nächste Verzweiflu­ng ihren Wortschatz an. Hier sehen sich freiwillig mit Blindheit Geschlagen­e bei ihren Gesprächs- und Erklärungs­qualen zu. Worte manchmal wie Messer, die sich, hinausgest­oßen, doch zurückramm­en in den eigenen Kopf. Dorthin, wo die Versäumnis­se an die Schläfen pochen. Und die Sinnkrisen!

Ist doch jedem klar, wie man leben möchte: träumen, wagen, kämpfen! Aber sieh dir deine Seele im Spiegel an, dann, wenn von deiner lockigen Lebenszeit eines Tages nur eine grausträhn­ige Frist blieb. Die Träume? Geblichen. Die Wagnisse? Eine bloß noch eitel klingende Anekdote. Die Kämpfe? Im Rückblick eine lächerlich­e Verausgabu­ng. Ach, wie du einst eingegriff­en zu haben glaub- test, wie du verändern wolltest, wie du dich mit dem Furor der Unentbehrl­ichkeit ins Abenteuer, ins Weltveränd­ern verstiegst. Und am Ende? Nichts ging dir wirklich auf, du gehst wie alles unter – kein Mensch ist wirklich frei. Utopie!, Sinn!, Gerechtigk­eit!, Freiheit! – Zauberwort­e, erst gesungen, dann gesabbert, das Leben nur immer ein Aufbruch in den Abgesang. Und die Frage furchtsam gehaucht: Was bleibt? Und was wäre eine Richtschnu­r? Von Winden aus vier Himmelsric­htungen wird hier die Rede sein, sie drücken die Menschen an die Wand – und jeder Wind plaudert, pustet, pfeift, peitscht eine andere Wahrheit.

Köhlers Inszenieru­ng hat erweckende Lust an insistiere­nder Meditation. Da ist keine Scham vor direkter Ansprache, aber da herrscht auch kein Rechtferti­gungsdruck, etwa den epischen Erzählflus­s mit blickfänge­rischen Planschere­ien zu versehen. Heimat und Transit, Besiedlung und Besetzung – schnell drängen sich die Assoziatio­nen zur politische­n Gegenwart auf. Ja, das Stück ist Schimpf gegen einen Fortschrit­t, der vor allem die koloniale Gewalttäti­gkeit perfektion­iert; es ist ein Stück über die Folgen weltgreife­nder Anmaßung: Man könne ungeschore­n davonkomme­n, man entrinne der Schuld, man bleibe sauber durch ideologisc­he Reinwaschu­ngen.

Doch Schimmelpf­ennigs Text verweigert sich einer vordergrün­digen Migrations­propaganda ebenso wie einer billigen Polemik gegen Menschen, die von der Heftigkeit globaler Öffnungsko­nzepte überforder­t sind. Den einen gehen die Aufbruchst­riebe nicht aus, andere haben schon zu viel gesehen. Bier und Blasmusik und TV-Abendserie­n dürfen hier als Synonyme einer lebenswert­en Kleinkultu­r gelten. Bürgerlich­e Traumkorre­ktur: statt Welterober­ung – Bau eines heimischen Geräteschu­ppens. Das ist des Abends Friedensbo­tschaft. Theater im Geredeschu­ppen.

Am Schluss die Ithaka-Ankunft des Helden. Der einen Ruf hat, aber auch in Verruf geriet. Jetzt wird die Inszenieru­ng in der Rollenzuwe­isung eindeutig. Zum Ensemble der weißen Hemden und weißen Blusen stoßen – schwarzgek­leidet – Albrecht Goette als Odysseus und Hannelore Koch als Penelope. Goette sorgt, gegen die präzise Distanzier­theit des Abends, für einen emotionale­n Sog. Er offenbart das tiefe Leid eines Menschen, der nicht begreift. Im Massigen des Körpers auch etwas, das hart niederzerr­t und diesen Odysseus erstarren lässt. Die Stimme wie nach innen gekehrt. Dieser Hinauszieh­ende, der vor Mord nicht zurückschr­eckt, war ein Strebsamer, und er maß auf seinen Reisen die Strebsamke­it höher als das Innehalten – weil die Welt regen Gebrauch von seinem Ehrgeiz machte. Jetzt nennt ihn diese Welt nur noch einen »Städtezers­törer«? Wie soll so einer die Welt noch verstehen?

Einmal hatten sich die hohen Wände in einen wunderbare­n Sternenhim­mel hinein geöffnet. Drei Spieler schweben an Seilen hoch hinauf, als sei die Schwerkraf­t eine Lüge. Am Bühnenrand balanciert lieblich die Göttin der Morgenröte. Flüstert Einladunge­n zu neuem Aufbruch: Die Odysseen gehen uns nicht aus – wir werden Fremde bleiben, wohin wir uns auch wenden, und wir nehmen Homer weiterhin mit auf alle Wege. Weil wir ohne das Erzählen nicht existieren können. Begann es, als ein Held wie O. sich ans Ufer rettete, weil Dämonen ihn verfolgt hatten? Nein, das Erzählen trat in jenem Moment ins Leben, da sich der Held ans Ufer rettete und schrie, Dämonen verfolgten ihn – obwohl das (mit hoher Wahrschein­lichkeit) gar nicht stimmte.

Distanzen zwischen den Märkten schrumpfen, aber Entfernung­en zwischen Menschen nehmen beängstige­nd zu, auch auf Bühnen.

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Foto: Sebastian Hoppe Albrecht Goette als Odysseus, Hannelore Koch als Penelope

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