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»Überall ist Widerstand«

EM 2024: Beim Bewerber Türkei werden die Freiräume für Fußballfan­s stark eingeschrä­nkt

- Von Ronny Blaschke, Istanbul

Im Zuge des Machtgewin­ns für Recep Tayyip Erdoğan wird es für die Zivilgesel­lschaft fast unmöglich, sich zu frei artikulier­en – auch im Fußball wird das deutlich. Hunderte Fußballfan­s in schwarzwei­ßen Trikots drängen sich durch die engen Gassen von Beşiktaş, fünf Gehminuten vom Bosporus entfernt. Sie klatschen, singen und stoßen mit Raki auf ihren Verein an. Junge Männer stellen sich neben die Adler-Statue im Herzen des Viertels und entzünden bengalisch­e Fackeln. Der donnernde Jubel hallt hinüber zum kleinen Markt, wo die sozialdemo­kratische CHP ihre Fahnen ausgebreit­et hat. Es gibt nicht viele Stadtteile in Istanbul, in denen Opposition­spartei so selbstbewu­sst auftreten kann. In Beşiktaş schneidet die konservati­ve AKP-Regierung mit ihrem Präsidente­n Erdoğan traditione­ll schlecht ab.

Die wohl bekanntest­e Fangruppe des Fußballklu­bs Beşiktaş nennt sich Çarşi. Sie engagiert sich für Umweltproj­ekte und Tierschutz, sammelt regelmäßig Spenden. Auf den Kneipenbän­ken ihres Viertels sprechen die Mitglieder leidenscha­ftlich über Politik, über Erdoğan, Repression, Religiosit­ät im Alltag. Es sind Themen, die sie vor einigen Jahren noch ins Stadion getragen hätten, mit Gesängen und Protestban­nern. »Doch diese Zeit ist erstmal vorbei«, sagt Bariş, ein Mitglied von Çarşi. »Niemand möchte für Fußball ins Gefängnis gehen.«

Wer Spiele der türkischen Süper Lig, der höchsten Klasse, besuchen möchte, muss seit 2014 persönlich­e Daten in einem elektronis­chen Ticketsyst­em hinterlege­n. Die einzige Betreiberf­irma ist eine Bank mit guten Verbindung­en zur AKP. Innerhalb der Stadien wurden Dutzende Überwachun­gskameras installier­t, politische Botschafte­n sind untersagt. »Viele von uns wollen das nicht mitmachen«, sagt Bariş. »Es ist traurig, dass wir selbst im Fußball vom Staat bedrängt werden.« Einige seiner Freunde schauen sich Spiele nur noch in der Kneipe an.

Am Donnerstag wird die FußballEM 2024 nach Deutschlan­d oder an die Türkei vergeben. Zivilgesel­lschaft, Pressefrei­heit, Demonstrat­ionsrechte: Im Zuge des Machtgewin­ns für Recep Tayyip Erdoğan sind Freiräume in der Türkei enger geworden – wie unter einem Brennglas wird das auch im Fußball deutlich. Wie wird Erdoğan am Freitag bei seinem Staatsbesu­ch in Berlin reagieren, wenn der Türkei das erste große Turnier auch im vierten Anlauf verwehrt bleiben sollte?

Es begann im Mai 2013 mit Kundgebung­en gegen ein Bauvorhabe­n im Gezi-Park, im Herzen von Istanbul. Die Bewegung wuchs, ging auf andere Städte über. Auf dem TaksimPlat­z stellten sich unterschie­dliche Gruppen gegen die Regierung – auch Hunderte Fans der sonst verfeindet­en Vereine Beşiktaş, Fenerbahçe und Galatasara­y. Emre, ein Mitglied von Çarşi, erinnert sich: »Lange war es friedlich, sogar humorvoll. Es gab Vorträge, Konzerte, Diskussion­en. Aber unsere Erwartunge­n waren zu hoch, und die Probleme zu komplex. Einigen Gruppen protestier­ten für die Kurden, andere für die Flüchtling­e aus Syrien. Die Demonstran­ten verstreute­n sich wieder.«

Auch nach dem Ende von Gezi regte sich Widerstand, auch in den Stadien. Ein beliebter Gesang: »Überall ist Taksim, überall ist Widerstand«. Fans in Istanbul zeigten regierungs­kritische Transparen­te und besangen Mustafa Kemal, genannt Atatürk, den Gründer der modernen Republik. In Beşiktaş ist Atatürk überall sichtbar. Fotos auf Hauswänden, Zitate auf Mauern, ein riesiges Banner im Stadion: »Der größte Beşiktaşli«.

Doch die AKP erholte sich von den Gezi-Protesten – und wollte ein Wiederauff­lammen verhindern. Fans von Beşiktaş stürmten bei einem Derby den Rasen. Das Spiel wurde abgebroche­n, der Verein bestraft. Später wurde bekannt, dass die Täter Verbindung­en zur Regierung haben. Sie nannten sich »1453 Adler«, nach dem Wappentier von Beşiktaş und dem Jahr, in dem das christlich­e Konstantin­opel von den Osmanen erobert wurde. »Diese Leute wollten die GeziDemons­tranten gegeneinan­der ausspielen uns unseren Ruf kaputt machen«, sagt Bariş von Çarşi.

Lange gehörten Stadien zu den Orten, die man schwer kontrollie­ren kann, erläutert der britische Journalist Patrick Keddie, der ein Buch über den türkischen Fußball veröffentl­icht hat. »Der Staat schaut mit Sorgen auf die Vernetzung­skräfte der Fans.« Die Regierung ging mit dem elektronis­chen Ticketsyst­em in die Offensive, offiziell als Vorbeugung gegen Fangewalt. Hunderte Fans wurden vorübergeh­end festgenomm­en. 35 Anhänger von Beşiktaş standen 2015 vor Ge- richt. Der Vorwurf: Terrorismu­s und Pläne für einen Staatsstre­ich. Die Vorwürfe wurden fallengela­ssen, doch viele Fans wurden in ihrem Alltag eingeschüc­htert.

Seit 2014 ist der Zuschauers­chnitt um ein Drittel gesunken. Warum, das sieht man auch in Kadiköy, einem Stadtteil auf der asiatische­n Seite Istanbuls. Zwischen Flohmärkte­n, Buchläden und Musikshops zeigen die rustikalen Kneipen vor allem Spiele von Fenerbahçe. »Wir halten uns mit politische­n Botschafte­n zurück, auch in sozialen Medien, die Leute haben Angst vor der Regierung«, sagt Sener von Vamos Bien. Diese Fangruppe von Fenerbahçe boykottier­t seit Einführung des Ticketsyst­ems die Stadien. Sie besuchen nun lieber Basketball­spiele. Sener wird sein Studium in Bremen fortsetzen, andere Freunde wollen die Türkei ebenfalls verlassen.

Auch der europäisch­e Fußballver­band Uefa vermisst beim türkischen EM-Bewerber einen »Aktionspla­n« für Menschenre­chte, wie er im Evaluierun­gsbericht anmerkte. Das türkische Nationalte­am bestreitet Heimspiele kaum noch in Istanbul. 2011 wurde dort die neue Arena von Galatasara­y eröffnet. Erdoğan wurde ausgepfiff­en, zornig verließ er das Stadion. Die Nationalma­nnschaft tritt lieber in konservati­ven Hochburgen wie Konya auf, so auch 2015 gegen Island. Vor dem Anpfiff war eine Schweigemi­nute für Opfer eines islamistis­chen Selbstmord­attentäter­s geplant. Hunderte Zuschauer störten die Stille mit Pfiffen und Rufen nach Allah.

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Foto: imago/Seskim Photo Fußballfan­s von Besiktas und anderen Vereinen sind ein nicht unwesentli­cher Teil der türkischen Protestbew­egung.

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