Corbyn taktiert in der Brexit-Frage
Labour-Chef meidet Debatte um zweites Referendum
London. Der britische Labour-Chef Jeremy Corbyn hat die Unterstützung seiner Partei für ein Brexit-Abkommen auf der Grundlage der Pläne von Premierministerin Theresa May ausgeschlossen. Das sagte Corbyn zum Abschluss des Parteitags am Mittwoch in Liverpool. Die Debatte um ein zweites Brexit-Referendum mied er weitgehend. Sollte ein Abkommen mit Brüssel über den EU-Austritt des Landes im britischen Parlament scheitern, werde Labour auf eine Neuwahl hinarbeiten, sagte Corbyn. Wenn das nicht gelänge, seien alle Optionen offen. Ob aus seiner Sicht damit auch ein Referendum mit der Möglichkeit eingeschlossen ist, den Brexit rückgängig zu machen, ließ Corbyn offen. Die Parteiführung um Parteichef Jeremy Corbyn steht einem zweiten Referendum kritisch gegenüber, aus Angst, linke Brexit-Wähler könnten der Arbeiterpartei ihre Stimme entziehen.
Die Delegierten des Labour-Parteitags hatten am Dienstag mit überwältigender Mehrheit für die Option eines zweiten Brexit-Referendums gestimmt.
Im Vorfeld des mehrtägigen Kongresses der Labour-Partei im englischen Liverpool wurde ein Eklat wegen der Brexit-Debatte befürchtet. Doch es kam anders. Zum Abschluss der Jahreskonferenz in Liverpool war die Labour-Partei wieder in ihrem Element. Tosender Applaus, stehende Ovationen und ein Chor von »Oh, Jeremy Corbyn!«-Gesängen, als der Vorsitzende das Podium betrat. Nach monatelangem internen Zank waren die 1650 Delegierten sichtlich froh, dass endlich wieder mal die Politik im Vordergrund stand – und dass Corbyn seine Entschlossenheit zu einem dezidiert linken Programm bekräftigte, dem sich die Parteibasis anschließen kann.
Vor dem Parteitag hatten viele befürchtet, dass die Debatte um den Brexit zu einem Eklat führen könnte. ProEU Aktivisten hatten in den Monaten zuvor versucht, die Parteiführung zur Unterstützung für ein zweites Referendum zu überreden. Laut einer neuen Umfrage sind 86 Prozent der Labour-Mitglieder dafür, die Bevölkerung zu den Modalitäten des Austritts zu konsultieren, und rund 100 lokale Parteiverbände hatten entsprechende Anträge eingebracht.
Doch die Führung wie auch viele Abgeordnete in Wahlkreisen, die deutlich für den EU-Austritt gestimmt haben, sind überaus skeptisch: Sollte Labour ihre undeutliche Brexit-Position zugunsten einer proeuropäischeren Strategie aufgeben und sich unumwunden für eine weitere Abstimmung aussprechen, so befürchten sie, dass sie in den Augen der Brexit-Wähler auf Seiten des anti-demokratischen Establishments stünden. Jegliche Chancen, in den EU-kritischen Landstrichen Stimmen hinzuzugewinnen, wären dahin.
Doch der befürchtete Streit blieb weitgehend aus. Die Delegierten des Parteitags einigten sich auf eine Formulierung, die beide Seiten zufriedenstellen konnte: Demnach soll La- bour sich nicht zu einem zweiten Plebiszit verpflichten, sondern zunächst Neuwahlen fordern und sich dann, falls dies nicht möglich ist, alle Optionen offenhalten, darunter auch die Unterstützung eines erneuten Referendums. Mit überwältigender Mehrheit stimmten die Delegierten am Dienstagabend für diese Resolution.
Jenseits der Debatte um den EUAustritt war die Konferenz von einem radikalen Ton geprägt. John McDonnell beispielsweise kündigte umfassende Pläne für eine Wirtschaftsreform an: So sollen große Unternehmen verpflichtet werden, zehn Prozent ihres Profits in einen Fonds für die Angestellten zu überweisen und am Ende des Jahres als Dividende auszuzahlen. Zudem stellte er eine Demokratisierung der öffentlichen Dienste, Maßnahmen zur Unterbindung der Steuerhinterziehung sowie eine Stärkung der Gewerkschaftsrechte in Aussicht.
In die gleiche Kerbe schlug Parteichef Corbyn selbst an seiner Rede. Er bekräftigte die Entschlossenheit Labours, Privatunternehmen und Outsourcing-Firmen, die sich durch Gier und »sozialen Vandalismus« auszeichneten, an die Kandare zu nehmen. »Labour wird dieser Gaunerei ein Ende setzen«, sagte der Vorsitzende.
Auch die Wohnungskrise, eines der größten Probleme in Großbritannien, will er mit einem bei Robin Hood entlehnten Plan angehen: Wer eine zweite Wohnung besitzt, muss in Zukunft die doppelte Gemeindesteuer zahlen. Das Geld soll verwendet werden, um Kindern, die in temporärer Behausung wohnen, ein permanentes Heim bereitzustellen. »Stellen wir es uns als einen Solidaritätsfonds vor«, sagte Corbyn – Geld von jenen, die zwei Wohnungen besitzen, geht an jene, die gar keine haben.
Der Vorsitzende wiederholte die am Vortag gutgeheißene BrexitStrategie, nämlich dass Labour zunächst eine Neuwahl fordern wird, falls Mays Deal im Parlament durchfallen sollte. Corbyn beschwichtigte aber auch die Remain-Anhänger in seiner Partei: Ein »No Deal« käme auf keinen Fall in Frage und würde ein »nationales Desaster« bedeuten. So wird die Labour-Führung gestärkt vom Parteitag abreisen – und kann gelassen der Tory-Konferenz entgegenblicken, die am kommenden Wochenende beginnt und die für Theresa May kniffliger sein dürfte als der Labour-Parteitag es für den Oppositionschef war.