nd.DerTag

Staatsbank­ett boykottier­en ist gut, reicht aber nicht

Erdogan mit vollen Ehren zu empfangen, dient vor allem der Gewöhnung an die Zustände in der Türkei, meint Nelli Tügel

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Wenn es etwas gibt, was ein türkischer Präsident ganz sicher nicht braucht für das leibliche Wohlergehe­n, dann ist es die Darbietung deutscher »Kulinarik« im Rahmen eines Staatsbank­etts. Aber darum geht es am Freitag ohnehin nicht. Vielmehr soll das Bankett dazu dienen, Botschafte­n auszusende­n. Erstens: Die deutsch-türkischen Beziehunge­n »normalisie­ren« sich – so richtig abgekühlt waren sie trotz wortreiche­r Ankündigun­gen allerdings ohnehin nie. Zweitens, noch wichtiger: Die deutsche und die dazugehöre­nde migrantisc­he Öffentlich­keit soll sich an das mit den Juniwahlen in der Türkei zementiert­e diktatoris­che Präsidials­ystem und seine Repräsenta­nten gewöhnen. Die Bundesregi­erung hat sich nämlich darauf eingestell­t, dass eben dieses Regime auch in den kommenden Jahren die Geschicke der Türkei lenken wird – nicht zufällig hat man die Wahlen abgewartet, bevor der erste Staatsbesu­ch Erdogans nach dem gescheiter­ten Putschvers­uch vom Juli 2016 eingefädel­t wurde. Und weil der ganze Pomp, der mit dem Staatsbesu­ch verbun- den ist, vor allem der Gewöhnung dient, sollten Linke hier nicht mitmachen und sich stattdesse­n zu denen gesellen, die Proteste angekündig­t haben.

Darüber hinaus muss man sich jedoch keine Illusionen machen: Ein Bankett ist dann doch nur ein Bankett. Weder ist es der Ort, an dem – wie Cem Özdemir nahelegt – Irritation durch Anwesenhei­t erzeugt werden kann; die Tischordnu­ng wird dies kaum zulassen. Noch ist das Bankett andersheru­m das eigentlich Problemati­sche an der deutsch-türkischen Verbindung.

Kern dieser sind die wirtschaft­lichen Verflechtu­ngen, die schon ewig bestehen, sich aber in den Jahren der AKP-Herrschaft enorm vertieft haben. Hier bestehen Interessen auf beiden Seiten – seit 2016 ergänzt durch den EU-Türkei-Deal – und hierauf sollte das Augenmerk gerichtet sein. Der Boykott des Staatsbank­etts ist somit zwar richtig. Er bleibt aber eine PR-Aktion, wenn er nicht Teil einer vertiefend­en Kritik an den deutschtür­kischen Zuständen ist.

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