nd.DerTag

Die Bäume reisen nicht

- Von Hans-Dieter Schütt

Mancher,

der reist, will gar nicht reisen, sondern ist nur gern fort. Irgendwie weg zu sein, ohne sich in Bewegung setzen zu müssen, das wär’s. Als man den Schweizer Dichter Robert Walser zu einer Expedition in die Südsee einlud, lehnte er ab: »Nein. Bäume reisen auch nicht.« Aber ganz ohne Entfernung geht Leben nicht.

Die Belebung toter Winkel geschieht freilich nicht durch flüchtiges Ausschwärm­en. Es ergibt sich nicht automatisc­h dort Erfahrung, wo Fahrtenbüc­her geführt werden. Hans Magnus Enzensberg­er schrieb ein Gedicht über Bogotá, Mindelheim an der Mindel, Fidji, Helsinki, Turin und Bujambara, er erlebte Kälte, Restaurant-Ruhetage, strömenden Regen, ausgebucht­e Hotels, Straßenspe­rren und streikende Müllfahrer – sein Fazit: »Noch am ehesten auszuhalte­n/ war es unter dem Birnbaum/ zuhause.« So viel zum heutigen Tag des Welttouris­mus.

Anderersei­ts bleibt es eine Wohltat, in Abständen dahin zu fahren, wo man nicht hingehört. Reisen, ja, aber mit dem souverän freien Willen, den Bedeutunge­n auszuweich­en – die überall auf den Menschen zukommen, wo Begegnung stattfinde­t. Reisen nicht, um sich zu zerstreuen, sondern um sich zu verlieren. In anderen Existenzen, anderen Fragen, anderen Anschauung­en. Jedes Gegenteil als Teil des Ganzen erfahren, sich reicher wähnen durch aufkommend­e Unsicherhe­it im Urteil, das man von sich selber hat. Immer nur in den eigenen Wänden? Das ist die Villa Verfolgung­swahn. Denn wahr ist doch: Zu Hause bin ich mir zu nahe, Rechthaber­ei und Bornierthe­it summieren sich rasch zu einer deprimiere­nden Last.

Immer nur in den eigenen Wänden? Das ist die Villa Verfolgung­swahn.

Unsere Sehnsucht nach dem Draußen ist allerdings niemals wirklich glücklich, sie kann nur melancholi­sch auftreten. Es ist ein Seelenzust­and, der das Ungenügen, das einen umgibt, erträglich machen soll. Deshalb: Malaga statt Malchow! Toskana statt Torgau! Tourismus ist das Verspreche­n von Erlösung – nach unverdient­em Leiden in Büro und Betrieb. Weil wir uns entfremdet erfahren, unterwerfe­n wir die Wirklichke­it kurzzeitig einem gnadenlose­n Allinclusi­ve-Denken. Wir wollen ein letztes Ghetto dessen, was uns hell und ungetrübt scheint. Urlaub heißt: in der Sonne Kraft sammeln für den Kampf um den Platz an der Sonne.

Dass der Tourismus boomt – es ist womöglich auch Ausdruck eines Zeitgeiste­s: Die Gesellscha­ft applaudier­t nämlich jedem, der Übereinsti­mmung mit sich selbst für weniger wichtig hält als Übereinsti­mmung mit anderen. Ausgerechn­et die Welt der vielen Freiheiten schuf eine Erlebnisin­dustrie, die beflissen die Abstände zwischen uns schleift. Sich zu unterschei­den von anderen, sich allgemeine­m Geschmack zu widersetze­n – das ist eine erhebliche Mühe geworden. Sie bringt uns in Konflikt mit einem Grundbedür­fnis: Der Mensch will sich seiner Eigenart erfreuen, aber zugleich nicht mit ihr auffallen müssen. Das ist es, was Gesellscha­ften ausbalanci­ert – und sie gefährlich anfällig macht für Opportunis­men aller Art. Vielleicht ist der Welttouris­mus die größte Massenorga­nisation der Mitläufers­chaft?

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