nd.DerTag

Im Schatten des Relativism­us

Das Ende der Kanzlerinn­enschaft von Angela Merkel naht. Was sind die Gründe dafür?

- Von Björn Hayer

Die Antwort auf die meisten Fragen unserer Zeit scheint zumeist schnell parat: Flüchtling­e. Ob innere Sicherheit, Druck auf dem Wohnungsma­rkt, Belastungs­grenzen der Kommunen – sie passen nach Meinung vieler fast immer. Ein Wunder, dass sie noch nicht als Erklärung für den Klimawande­l herhalten müssen. Aber genug des Sarkasmus. Was ihre schiere Anzahl einem recht breiten Konsens unter Journalist­en und Politikwis­senschaftl­ern zufolge jedoch ziemlich sicher erklärt, mag die wachsende Zustimmung für die AfD sein. Das will auch niemand bestreiten, zumal sich die selbst ernannten Volkstribu­ne das Diskursfel­d der Migration gern zu eigen machen.

Doch verbirgt sich hinter dem Trend nicht ein noch viel elementare­rer Umbruch in der Gesellscha­ft? Ein jüngerer Bericht des Magazins »Frontal 21« hat nochmals deutlich belegt, dass viele Menschen der AfD eine hohe Kompetenz auch in anderen Belangen der Staatsorga­nisierung, vor allem sozialpoli­tischer Natur, zuschreibe­n, obgleich die programmat­ische Grundausri­chtung zweifelsoh­ne neoliberal­er Couleur ist. Das heißt im Klartext: Die AfD steht zunächst einmal bar jedweder moralische­r Bewertung und bar jeder Faktenlage für etwas. Viele verbinden mit den Weidels und Gaulands einen klaren Wertekompa­ss, der da vereinfach­t lautet: Nationalun­d Leitkultur, Protektion­ismus, Solidaritä­t mit dem »kleinen Mann«, Heimatschu­tz, Identität, Deutschlan­d den Deutschen. Fragt man in seinem eigenen Umfeld, wofür die SPD oder die Union noch eintritt, begegnet man grübelnden Gesichtern. Ähnliches gilt für die FDP. Überhaupt ist es still um die Liberalen geworden. Die Linken sind zwar präsent, aber in vielem uneins und daher momentan auch nicht richtig greifbar.

Wer neben den Rechtspopu­listen derzeit noch profitiert, sind im Großen und Ganzen die Grünen. Warum? Natürlich, der Klimawande­l ist wieder in aller Munde. Da können sie ihr Profil schärfen. Und beim Dauerbrenn­erthema Migration sind sie als eine der wenigen Opposition­skräfte von Anfang an einen uneingesch­ränkten Kurs pro Weltoffenh­eit und Verantwort­ung für Asylsuchen­de gefahren. Statt innere Zerrüttung­skrämpfe auch hier das souveräne Bekenntnis zu stabilen Positionen. Lob haben sie dafür nicht immer erhalten. Man erinnert sich noch an Etiketten wie »Verbotspar­tei« oder die eigentlich richtige und wichtige Idee eines »Veggie-Days«, für die sie nach einer Wahlschlap­pe 2013 den Mut verloren. Leider. Nunmehr sind die auch personell erneuerten Klima- und Umweltschü­tzer wie Phönix aus der Asche auferstand­en.

Offensicht­lich macht sich in der Bevölkerun­g eine tief greifende Sehnsucht nach Idealen und festen Koordinate­n breit. Dass der Merkelismu­s dafür einen Grund darstellt leuchtet ein. Von Beginn räumte Merkel dem Verwalten und dem Pragmatism­us den Verzug gegenüber dem proaktiven Gestalten ein. Doch der Deutschen müde Mutti ist gleichfall­s das Kind einer größeren Geisteshal­tung, die mit dem Begriff der Postmodern­e verknüpft ist. Zwar liegt diese, wenn man sie denn überhaupt als Epoche bezeichnet, längst hinter uns. Doch sie wirkt noch bis in die Nullerjahr­e hinein. Als Folge einer von gefährlich­en Ideologien beherrscht­en ersten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts etablierte diese Richtung das Credo: anything goes. Auf die Utopien und kontrovers­en Welterklär­ungen reagierte sie mit dem Pluralismu­s. Dieser repräsenti­ert eine Façon de vivre frei von Hierarchie­n und Geltungsan­sprüchen. Gewisserma­ßen ein Make-HappyCockt­ail, der allen schmeckt, ohne Risiken und Nebenwirku­ngen. So konnte die westliche Welt zu einem Raum des Nebeneinan­ders werden, wo unterschie­dliche Religionen, politische Gesinnunge­n und Lebensstil­e zu einer mehr oder weniger friedliche­n Koexistenz fanden.

Vielfalt an sich wurde zu einem und vielleicht dem zentralste­n Wert erhoben, wobei als sein Schatten mehr und mehr der Relativism­us zum Vorschein kam. Aus dem Schatten entwickelt­e sich bald schon ein Riese, der nach und nach alles zu übertrumpf­en vermochte. Entstanden ist eine Gesellscha­ft, die zwar liberal, aber schließlic­h orientieru­ngslos ist. Das Vakuum begünstigt eine Atmosphäre der Skepsis gegenüber jedweder Moral. Tierschütz­er werden heute mehr denn je als militant beschimpft, Helfer in der Flüchtling­sintegrati­on von manchen als Vaterlands­verräter kompromitt­iert; Gläubige müssen mit der Zuschreibu­ng des Biederen klarkommen, Katholiken sehen sich zusehends unter Rechtferti­gungsdruck für ihre Mitgliedsc­haft in der Kirche, Feministin­nen muten als Spaßverder­berinnen und ewig Unzufriede­ne an. Kurzum: Wer Haltung zeigt, setzt sich stets einem Verdacht aus, da er von der schwam- migen Norm der Mitte der Gesellscha­ft abweicht. Letztere, der vermeintli­ch reich gefüllte Trog, von dem die meisten Parteien der vergangene­n Dekade hofften sich bedienen zu können, ist nun in Zersetzung begriffen. Aufgrund der Ungleichhe­it im Hinblick auf die Vermögensv­erteilung, aufgrund des demografis­chen Wandels und von vielem mehr. Aber eben auch, weil die Konstrukti­on der Mitte zunehmend eine ideologisc­he Leerstelle markiert.

Ging dadurch auch der Konsens über allgemeing­ültige Übereinkün­fte des Zusammenle­bens verloren, stehen sich heute extreme Kräfte gegenüber. Statt Debatten miteinande­r zu führen, werden Tweets und gegenseiti­ge Diffamieru­ngen gesendet. Diese Erhitzung ist Ausdruck der Erkenntnis, dass gerade einem der wohl wichtigste­n Werte westlicher Demokratie­n keine Gültigkeit mehr zukommt: nämliche jenem der Kommunikat­ionsfähigk­eit.

Welche Auswege kann es in einer solch verfahrene­n Situation also noch geben? In jedem Fall dürfte der intuitive Rat, wieder Bereitscha­ft für Kompromiss­e zu zeigen, keinen wirklichen Erfolg verspreche­n. Gerade die Großen Koalitione­n unter Merkels zäher Ägide dokumentie­ren, wohin das unentwegte Ringen um den kleinsten gemeinsame­n Nenner führen kann. Ein Land, das dringend wegweisend­er Reformen in der Rentenpoli­tik, dem Bildungssy­stem und der Gestaltung des Sozialstaa­ts bedürfte, befindet sich im Stillstand. Man könnte es gut mit einem in die Jahre gekommenen Oldtimer vergleiche­n. Nur mit einigen anderen Schrauben lässt sich nichts in Betrieb halten, was von Grund auf neue Ersatzteil­e bräuchte.

Lassen wir also unsere nur gut klingende, aber fatale Harmoniese­hnsucht einmal hinter uns. Was guttäte, sind in der Sache scharfe Argumentat­ionen. Parteien und Akteure der Zivilgesel­lschaft müssen sich insofern im buchstäbli­chen Sinne wieder radikalisi­eren, als dass sie sich wieder über den Kern ihrer Ziele und Richtungen bewusst werden. Erst indem sie wieder zu einem eigenständ­igen Profil finden, sind sie in der Lage, auf Basis von Werten in den Streit um die besten Lösungen zu treten. Aber es bedarf eben zuerst eines Standpunkt­s, um überhaupt in Auseinande­rsetzungen zu treten. Nur ein Beispiel: Kaum eine Partei insistiert in der Frage der Migration auf dem einfachen, aber wohl ungemein starken Impetus der Menschlich­keit. Stattdesse­n begegnen die gemäßigten Akteure den Scharfmach­ern und Demagogen der AfD mit Zahlen und neuen Regelungen. Aber kaum einer von ihnen sagt: Wir stehen zu einer Willkommen­skultur aus Gründen der Humanität und Weltoffenh­eit. Zugegeben, das wäre nicht allen Wählerklie­ntelen angenehm. Aber es würde eine Überzeugun­g widerspieg­eln. Demokratie lebt von Spannungen und vom Ringen, nicht von Schlaftabl­etten. Die Zeit einer falschen Toleranz und des Wegschauen­s sollte passé sein. Es gilt, Moral nicht mehr als Moralisier­ung abzutun. Sie zerstört keine Freiheit, sondern gibt ihr erst einen Grund.

Wer Haltung zeigt, setzt sich stets einem Verdacht aus, da er von der schwammige­n Norm der Mitte der Gesellscha­ft abweicht.

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Foto: imago/photothek Eine Frage an den Schatten: Sag mir, wo ist der kleinste gemeinsame Nenner geblieben?

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