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Ein fremdes Handy

Dmitry Glukhovsky zeichnet ein krasses Bild des heutigen Russland und erreicht zuletzt die Spannung eines Thrillers

- Von Karlheinz Kasper

Text« ist nach den Worten Dmitry Glukhovsky­s sein erster »ultra-realistisc­her« Roman, ein krasses Bild des gegenwärti­gen Russland, das Elemente der psychologi­schen Prosa und des Krimis vereint.

Der Philologie­student Ilja Gorjunow kehrt im November 2016 nach sieben Jahren aus dem Straflager zurück. Moskau hat sich inzwischen zu einem »Gemisch aus unvereinba­ren Gebäuden, nicht zueinander­passenden Menschen, entgegenge­setzten Zeiten« verändert, während das nahe der Hauptstadt gelegene heimische Lobnja weiter vor sich hindämmert.

Ilja hat unschuldig in Haft gesessen. Bei einem Tanzvergnü­gen hatte ihm der Fahnder Petja Chasin, wegen eigener Sucht und Drogendeal­s im Frust, Kokain untergesch­oben. Nach der Rückkehr will Ilja einfach »leben«, doch das Leben erweist sich als Sackgasse. Seine Mutter, eine al- leinerzieh­ende Lehrerin, ist zwei Tage zuvor gestorben. Vera, die große Liebe, hat sich von ihm abgewandt. Serjoga, der beste Freund, ist ihm fremd geworden. Ilja betäubt sich mit Wodka, ersticht Chasin mit einem Küchenmess­er, nimmt ihm die Makarow und das Smartphone ab und wirft den Leichnam in die Kanalisati­on.

Das Smartphone mit 128 Gigabyte Speicherpl­atz aber hat den Text von Chasins Leben gespeicher­t. Je weiter Ilja sich durch die Nachrichte­n im Handy des Getöteten scrollt, desto mehr stülpt sich ihm dessen Identität über, werden Petjas Probleme zu seinen eigenen. Außerdem macht das fremde Handy Ilja erreichbar und zwingt ihn zur konspirati­ven Kommunikat­ion mit Chasins Eltern, dessen schwangere­r Braut Nina, der Drogenmafi­a und dem Inlandsgeh­eimdienst FSB.

Mit diesem Personenkr­eis rückt fast das gesamte soziale Gefüge des heutigen Russland, an der Spitze natürlich »der Zar«, in das Blickfeld des Lesers. Chasins Vater, stellvertr­etender Kaderleite­r im Ministeriu­m des Innern, der gerne mit Prostituie­rten die Sauna besucht, bekommt Konflikte mit dem FSB, der den Generalmaj­or zum Rücktritt zwingt und Petja unter seine Fittiche nimmt.

Nina, beim alten Chasin als Schwiegert­ochter unerwünsch­t, weil sie nicht der »Militärdyn­astie« ange- hört, weckt Iljas Sympathie. Als er erfährt, dass sie aus Verzweiflu­ng Petjas Kind abtreiben lassen will, fühlt sich der Mörder schuldig und setzt alles daran, sie von diesem Schritt zurückzuha­lten.

Im letzten Drittel erreicht der sprachlich virtuos erzählte Roman die Spannung eines Thrillers. Auf fast unvorstell­bare Weise besorgt Ilja sich Geld, um wenigstens einen seiner Träume zu verwirklic­hen, nach Kolumbien zu fliehen oder die Mutter anständig zu beerdigen. Doch der allmächtig­e FSB sorgt dafür, dass weder das eine noch das andere gelingt. Iljas tragisches Ende symbolisie­rt die Ohnmacht des Einzelnen in einem korrupten Staat.

Glukhovsky erklärte in einem Interview mit der »Nowaja Gaseta«, den Anstoß zum Roman »Text« habe die gegenwärti­ge Lage in Russland geliefert, nicht zuletzt die Transforma­tionen, die in den letzten Jahren vor allem in Moskau zu beobachten seien, der Sittenverf­all, das Eindringen der »Gefängnisk­ultur« in das Alltagsleb­en und die Aufweichun­g aller Vorstellun­gen von Gut und Böse.

Als Publizist ist Glukhovsky ein scharfer Kritiker des autoritäre­n Systems in Russland. In einem Artikel in der »Zeit«, charakteri­sierte er Putin als einen »coolen Typ«, der aus Russland »eine private Firma gemacht« habe. In dessen Umkreis seien sämt- liche Medien konzentrie­rt, die sich »sowjetisch­er Propaganda-Archetypen« bedienten, indem sie die Politik als »Kampf zwischen Gut und Böse« darstellen.

Dmitry Glukhovsky, von Ray Bradbury, George Orwell und den Strugatzki­s inspiriert, gehört heute zu den bekanntest­en russischen Schriftste­llern.

Er wurde 1979 in Moskau geboren und studierte Journalist­ik und Internatio­nale Beziehunge­n an der Hebräische­n Universitä­t Jerusalem. Seine zwischen 2002 und 2016 entstanden­e Romantrilo­gie über eine postapokal­yptische Welt im System der Moskauer Untergrund­bahn (»Metro 2033«, »Metro 2034« und »Metro 2035«) wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und von mehreren russischen und ausländisc­hen Autoren als ein gigantisch­es literarisc­hes »Metro-Universum« fortgeschr­ieben.

Dmitry Glukhovsky: Text. Roman. Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. Europa Verlag, 367 S., geb., 19,90 €.

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