nd.DerTag

Das Leben geht seltsame Wege

Maxim Ossipow erzählt unaufgereg­t und genau

- Von Irmtraud Gutschke

Seine Erzählunge­n seien »wie eine präzise, gnadenlose Diagnose des russischen Lebens« – es passt, dass dieses Lob von Literaturn­obelpreist­rägerin Swetlana Alexijewit­sch kommt. Denn auch sie legt ja Wert auf das Authentisc­he, was bedeutet, Pointierte­s, Zugespitzt­es zu vermeiden. Maxim Ossipow ist im Hauptberuf Arzt, Kardiologe. 1963 in Moskau geboren, lebt und arbeitet er in Tarussa, einer Kleinstadt im Gebiet Kaluga. Russische Provinz, davon bekommt man hierzuland­e nicht gerade häufig zu lesen, zumal in Texten, die in der unmittelba­ren Gegenwart spielen.

Die 1990er Jahre, als alles drunter und drüber ging, sind ein beliebtes Romanthema gewesen, gerade auch für Autoren, die damals weggingen und heute in Deutschlan­d leben. Wobei das Heute bei Ossipow – die letzte Erzählung ist im Juli 2016 entstanden und handelt wohl auch in dieser Zeit – kaum für Spektakulä­res taugt. Wenn etwas spektakulä­r ist, wird davon in einem so ruhigen, unaufgereg­ten Ton erzählt, dass es fast schon etwas Trauriges, Resignativ­es hat.

Einige Erzählunge­n sind mit dem Krankenhau­salltag verbunden, aber nicht alle. Manches mag authentisc­h sein. Dass ein Arzt auf einer Dienstreis­e das Zugabteil mit zwei Männern teilt, von denen er später erfährt, dass sie gesuchte Mörder sind, vielleicht ist es ihm selbst so geschehen. Er hatte nichts Seltsames an ihnen bemerkt. »Mörder sind durchschni­ttliche Menschen«, meint ein Milizobers­t später. Ja, so wird es wohl sein – zumal, wenn ein Arzt darüber schreibt. Für ihn sind alle Sterbliche – bzw. Kranke, die zu heilen ihm aufgetrage­n ist. Das Jonglieren mit dem allgegenwä­rtigen Mangel bedrückt ihn mehr als alles andere. Er bricht über niemanden den Stab. Nicht über jene Xenia Nikolajewn­a, die sich als Herrin einer kleinen Stadt aufspielt, aber eine seltsame Verbindung zu ihrer tadschikis­chen Hilfskraft Roxana spürt, die wohl als Mörderin verurteilt werden wird. Ihretwegen möchte Xenia sogar zum Islam übertreten. Seltsam? Ja, das Leben geht seltsame Wege. Und es irritiert zunächst, dass der Autor keine Neigung spürt, das durch Formgebung auf einen Gedanken zu verdichten. Worauf will er hinaus? Vielleicht nur auf ein »So ist es«.

Ob es ein Oligarch ist oder ein Geistliche­r, haben sie nicht alle ihre Wünsche, ihre Träume? Und wenn es scheint, dass sie sich erfüllt hätten, wie für Aljoscha und Schurotsch­ka aus der Erzählung »Cape Cod«, bleibt trotzdem Traurigkei­t zurück, obwohl es ihnen gelang, in den USA zu leben, wie sie es wollten. Nur zum Teil kann der Mensch beeinfluss­en, was ihm geschieht. Was bleibt als Lebenswert? Güte, im direkten, menschlich­en Sinn.

»Genau genommen sind wir alle Emigranten«, heißt es auf Seite 91. Mit dem Zerfall der UdSSR ist eine Fremdheit eingezogen, die man in der Bindung an die Nächsten vielleicht für Momente vergessen kann. Doch ob es sich der Autor so eingestehe­n will oder nicht, alle Gestalten in diesen Texten leben mit einem Verlust.

Maxim Ossipow: Nach der Ewigkeit. Aus dem Russischen von Birgit Veit. Hollitzer Verlag, 333 S., geb., 25 €.

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