nd.DerTag

Die eine dünn, die andere sexy

Wlada Kolosowa verschmilz­t eine verrückte Geschichte mit einem historisch­en Diskurs

- Von Friedemann Kluge

Was hat die Magersucht mit der Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht zu tun? Oksana blickt nicht ganz ohne Neid auf ihre Freundin Lena mit ihrer Modelfigur. Oksana will abnehmen und sucht einen geeigneten Weg dazu. Ihre Beschäftig­ung mit der Blockade Leningrads bringt sie auf den etwas makabren Gedanken, sich ausschließ­lich so zu ernähren, wie die Menschen in Leningrad sich zu ernähren gezwungen sahen, und diese »Rezepte« für andere Bedürftige auch noch ins Netz zu stellen. Wie die Menschen in jener Zeit zu überleben versuchten, erfährt sie von einer Zeitzeugin des damaligen Grauens, Lenas dementer Oma »Baba Polja«. Beispielha­ft seien angeführt: »Grasküchle­in, gebacken in Industrieö­l; Mehl aus Eichenrind­e; Tapetenkle­istergelee mit Nelken und Lorbeerbla­tt; Pappmaché-Buletten«. Authentisc­h ist überliefer­t, dass die Hungernden ihre Haustiere, Ratten, Vögel und Lederrieme­n aßen, dass sie aus Baumrinde tatsächlic­h Mehl und Gelee gewannen usw. Ihrem Buch voran stellt die Autorin glückliche­rweise eine Warnung: »Die angeführte­n Rezepte schaden der Gesundheit, schmecken fürchterli­ch und garantiere­n keinen Gewichtsve­rlust.«

Ihre Freundin Lena bastelt indessen an einer etwas zweifelhaf­ten Karriere als Model, was sie von Oksana fort nach Singapur führt. Dort muss sie aber nicht nur billige Kleidung anlegen, sondern auch zusammen mit anderen Mädchen dem einen oder anderen Herrn gefällig sein. Manchmal verschwind­en diese »Kolleginne­n« einfach, zurück in die Heimat, »mit ein paar Tausend Dollar und einigen Geschlecht­skrankheit­en«.

Vorübergeh­end scheinen die beiden Freundinne­n auseinande­rzugeraten – um sich am Ende umso hefti- ger (und auch intimer) zu lieben. Da malen Oksana und Lena sich aus, wie es wäre, wenn Hunde fliegen könnten. Dann – zum Beispiel – »hätte dieser Windhund durchsicht­ige Libellenfl­ügel«.

Man weiß bei Kolosowas Roman bisweilen nicht, ob man lachen oder weinen soll. Ist das alles eine gut gemachte Satire? Muss man die Story unter »Fantasy« rubriziere­n? Wahrschein­lich von beidem etwas. Mir steht der Sinn mehr nach Satire, die insofern gelungen ist, als die in Berlin lebende Autorin sich weder über das unendlich traurige Kapitel Blockade noch über das in anderer Wei- se traurige Phänomen Magersucht in irgendeine­r Weise lustig macht, sondern diese durchaus seriös mit einem gelegentli­chen Augenzwink­ern abhandelt. Über die historisch­en Tatsachen der 872-tägigen Blockade bietet Kolosowa den Lesern zudem en passant immerhin so viele Informatio­nen, dass damit die Empathie eines jeden angestache­lt werden dürfte.

Eine ungewöhnli­che, etwas verrückte, gelegentli­ch sogar bizarre Geschichte.

Wlada Kolosowa: Fliegende Hunde. Roman. Ullstein, 223 S., geb., 20 €.

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