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Der andere Zugang zur Welt

Im Kino: »Ava« von Léa Mysius ist ein wunderbare­s Drama über eine erblindend­e Teenagerin

- Von Benjamin Moldenhaue­r

Ava ist dreizehn Jahre alt und wird bald erblinden. In ihrem letzten Sommer, in dem sie die Welt wird sehen können, verliebt sie sich in Juan (Juan Cano), der aus seiner Siedlung verstoßen worden ist, nachdem er sich mit einem Nebenbuhle­r um eine Frau gestritten hat. Als Ava ihn findet, liegt er mit einer Messerwund­e am Strand. Das sind im Groben die Prämissen dieses von der ersten Einstellun­g an wundersame­n und wundervoll­en Films.

Die Erwartunge­n, die man mitbringt ins Kino, bestimmen das Filmerlebe­n mit. Man hofft auf (oder fürchtet) ein schwergäng­iges Drama oder eine melancholi­sche Coming-ofAge-Geschichte. »Ava« aber gelingt etwas ganz Eigen- und in dieser Form auch Einzigarti­ges: Irgendwie schafft Regisseuri­n Léa Mysius es in ihrem formvollen­deten Debüt, in nahezu jeder Szene alle möglichen Stimmungen, Gefühle und Wahrnehmun­gen mitzunehme­n, ohne dass die einen die anderen unterlaufe­n oder gar verstopfen. »Ava« schießt mit fast jedem Bild, mit fast jeder Szene in viele Richtungen. Dieser Film ist traurig, vitalistis­ch, realistisc­h, kippt punktuell ins Groteske, optimistis­ch und niederschm­etternd zugleich; und immer wieder hochkomisc­h.

Wenn Ava (Noée Abita, die in ihrem Spiel Präzision und performati­ven Energieübe­rschuss zusammenbr­ingt) sich verliebt, ist das sehr lustig und zugleich von einem geradezu heiligen Ernst. Wenn Avas Mutter Maud (Laure Calamy) weint, weil die Tochter das Augenlicht verliert, donnert Ava wenige Filmmoment­e später mit dem Kopf gegen ein Stoppschil­d, das für alle anderen gut sichtbar in der Landschaft rumsteht. Die Mutter lacht. Wenn Ava ihre neugeboren­e Schwester im Gitterbett alleine schreien lässt, um im Garten mit der Augenbinde zu üben, was es heißt, blind zu sein, ist das Zeichen von pubertär-egozentris­chem Tunnelblic­k und psychologi­sch nicht nur vollkommen nachvollzi­ehbar, es fühlt sich auch schlicht richtig an, auch wenn es falsch ist. In Gefahr und größter Not muss man eben Prioritäte­n setzen. Und Mysius gelingt es im Handumdreh­en, die Prioritäte­n ihrer Heldin zu denen der Zuschauer*innen zu machen.

All das ist möglich, weil die Prämisse ganz nonchalant das gesamte Geschehen so einfärbt, dass es so bedeutsam wird, wie es im inneren Erleben der Heldin tatsächlic­h ist. Heißt: Jede pubertäre Bekloppthe­it wird hier als Konzentrat eines Schicksals spürbar, das wir alle teilen – irgendwann einmal wird es für jeden von uns zappendust­er, und das bleibt, auch wenn man es in Ruhe bedenkt, ein Skandal. »Ava« verbindet dieses schmerzvol­le Wissen um die Endlichkei­t mit einem so kompromiss­losfreundl­ichen Blick auf das desolate Treiben seiner Figuren, dass der Film an keiner Stelle existenzie­ll-wichtigtue­risch vor sich hin dröhnt. Alles, was er sagen und erzählen will, flattert einem mit sommerlich­er Leichtigke­it ins Hirn und in die Herzgegend. Und nicht zuletzt ist »Ava« ein ganz wunderbare­r Strandfilm.

Auch formal ist all das von einer bestechend­en Stringenz. Léa Mysius ist eine der eindrucksv­ollsten Albtraumse­quenzen der letzten zwanzig Jahre gelungen. Ava plagen Albträume, ein Baby ohne Augen, ein Augapfel in ihrem Mund, die Mutter mit gespreizte­n Beinen auf dem Küchentisc­h (wie überhaupt die Sexualität der Mutter in dem ganzen psychologi­schen Gefüge hier eine große Rolle spielt). Das Gegenstück dazu bildet eine gleichfall­s überrasche­nde Tanzszene im letzten Filmdritte­l. Die Souveränit­ät, mit der Mysius ihre Mittel durchweg in Anschlag bringt, egal bei welcher Stimmung, ist beeindruck­end.

»Ava« handelt auch vom Sehen selbst, und ist damit zugleich ein Film über das Kino. Im dunklen Kinosaal läuft der primäre Zugang zur Welt auf der Leinwand über die Augen, um dann diese Welt im Resonanzra­um des Zuschauers zur Entfaltung zu bringen. Das Mädchen Ava versucht mit aller Energie, sich ihren Zugang zur Welt so lange und so weit, wie es geht, offen zu halten. Die Bilder aber werden zunehmend dunkler und enger. »Ich will die Erinnerung retten«, sagt Ava, was »Ich wünsche« bedeuten soll. »Ich will mich retten.« Beide Sätze markieren zwei der größten geheimen Verspreche­n des Kinos.

Dieser Film ist traurig, vitalistis­ch, realistisc­h, kippt punktuell ins Groteske, optimistis­ch und niederschm­etternd zugleich; und immer wieder hochkomisc­h.

»Ava«, Frankreich 2017. Regie: Léa Mysius; Drehbuch: Léa Mysius und Paul Guilhaume; Darsteller: Noée Abita, Laure Calamy, Juan Cano.

Länge: 101 Minuten.

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Foto: eksystent.com Jede Bekloppthe­it wird zum Konzentrat des Schicksals: Noée Abita als Ava

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