nd.DerTag

Tsunami in Zeitlupe

US-Küstenstaa­ten steht vor schweren Folgen des Klimawande­ls – und vielen Umzügen

- Von Reiner Oschmann

Die US-Ostküste am Atlantik und die Bundesstaa­ten an der pazifische­n Westküste leiden immer wieder unter verheerend­en Stürmen und sintflutar­tigem Regen. Donald Trump hält Klimawande­l bekanntlic­h für Fake News, für Verschwöru­ngstheorie oder beides. Ungeachtet dessen bedrohen zerstöreri­sche Hurrikans, überschüss­ige Niederschl­äge und steigende Meeresspie­gel nicht nur die Malediven oder Bangladesc­h, sondern auch US-amerikanis­chen Küsten.

Als Elizabeth Boineaus Haus in diesem Sommer zum dritten Mal in drei Jahren unter Wasser gesetzt wurde, entschloss sie sich, die Koffer zu packen. Für immer. Sie suchte sich eine Mietwohnun­g in einem Obergescho­ss, von dem sie hofft, dass es unerreichb­ar bleibt für die stärker werdenden Niederschl­agsmengen und den steigenden Meerespege­l. Boineau gibt ein Häuschen in Charleston (South Carolina) auf. Voriges Jahr hatte Hurrikan »Irma« ihr im Haus einen Wasserstan­d von 20 Zentimeter­n zu einer Zeit beschert, da sie noch dabei war, Flutschäde­n von 2016 zu beseitigen.

Millionen US-Amerikaner werden in den kommenden Jahren und Jahrzehnte­n vor ähnlichen Entscheidu­ngen stehen, denn die Folgen des Klimawande­ls treffen die Ostküste am Atlantik und Bundesstaa­ten an der pazifische­n Westküste. Diese leiden unter verheerend­en Stürmen, sintflutar­tigen Regenfälle­n und erodierend­en Küstenlini­en. Ganze Städte denken über Umzug und Neubegründ­ung auf sichererem Terrain nach. Oliver Milman kam jetzt in einer Untersuchu­ng für den »Guardian« zu dem Schluss: »Das Zeitalter der Kli- mamigratio­n ist, quasi unangekünd­igt, über Amerika hereingebr­ochen.« Damit einhergehe­nde Bevölkerun­gswanderun­gen nehmen Fahrt auf und könnten bald übertreffe­n, was es diesbezügl­ich in der US-Geschichte gab.

Jesse Keenan, Klimaexper­te in Harvard, erklärte: »Berücksich­tigt man alle Auswirkung­en, wird diese Klimamigra­tion mehr als doppelt so stark sein wie einst die Auswirkung­en des Dust Bowl.« Der Hinweis auf die sogenannte Staubschüs­sel erinnert an die Zwangsmigr­ation von gut zweieinhal­b Millionen Amerikaner­n, die Mitte der 1930er dürre- und staubsturm­geplagte Prärie-Regionen im Mittelwest­en verließen und ihr Glück in Kalifornie­n suchten. Keenan geht davon aus, dass die neue Wanderung sich zwar über einen längeren Zeitraum als die Dust-Bowl-Krise vollziehen, die USA jedoch insgesamt vor viel größere Herausford­erungen stellen wird. »Wegen der beispiello­s komplexen Umstände ist es sehr schwer, ein menschlich­es Verhaltens­muster auf die Herausford­erungen vorherzusa­gen.«

Bis Ende unseres Jahrhunder­ts rechnet eine 2017er Studie zu den Folgen des Anstiegs des Meeresspie­gels mit einer einschneid­enden »Veränderun­g der Bevölkerun­gslandscha­ft in den USA«. Allein erhöhte Meeresspie­gel könnten 13 Millionen Bürger entwurzeln und zur Flucht veranlasse­n, darunter etwa sechs Millionen im »Sunshine State« Florida. Aber auch Staaten wie Louisiana, Kalifornie­n, New York und New Jersey würden sich in Größenordn­ung um Menschen zu kümmern haben, die heutige Wohnlagen verlassen müssen. Demograf Mat Hauer, der besagte Studie federführe­nd betreute, erklärt, letztendli­ch werde diese Entwicklun­g keinen Bundesstaa­t unberührt lassen. Schon jetzt zeichneten sich favorisier­te Zielregion­en für Umzugswech­sel ab. So orientiert­en sich Menschen aus gefährdete­n Teilen Südflorida­s mit Städten wie Palm Beach und Boca Raton, Fort Lauderdale oder Miami auf das benachbart­e Georgia und New Yorker auf den Rocky-Mountain-Staat Colorado. Doch zumeist sähen Menschen in gefährdete­n Gebieten ihre erste Wahl in der nächstgele­genen Stadt im Landesinne­rn, sofern finanziell erschwingl­ich. Hauer glaubt, dass viele Menschen in gefährdete­n Lagen sich einen Umzug gar nicht leisten können. »Wir werden es mit Menschen zu tun haben, die in der Falle sitzen und einer ungewissen Zukunft entgegense­hen.«

Als sicher gilt, dass Hunderttau­sende Häuser und Wohnungen an US- Küsten innerhalb der allernächs­ten Jahrzehnte chronisch wiederkehr­end überflutet und quasi einen Tsunami in Zeitlupe erleben werden. Ein prognostiz­ierter Meeresspie­leanstieg von fast zwei Metern bis Ende des Jahrhunder­ts würde die Küstenland­karte neu zeichnen – und manch bekanntes Gebiet auslöschen: Südflorida, Teile North Carolinas und Virginias, ein Großteil Bostons und so gut wie ganz New Orleans, die Dixieland-Metropole an der Mississipp­i-Mündung. Hoch im Norden besuchte ARD-Korrespond­ent Jan Philipp Burgard die Insel Sarichef vor Alaska. Deren Bewohnersc­haft von 600 Eskimos steht vor der Umsiedlung, weil ihre Insel buchstäbli­ch versinken wird.

Andere Regionen in geschützte­rer Lage rechnen mit neuem beziehungs­weise weiterem Zuzug. So erwarten Wissenscha­ftler, dass San Francisco und Umland eine Viertelmil­lion Menschen verlieren werden, während der Raum Los Angeles stark gewinnen soll. Ebenso Großstadtr­egionen wie Denver (Colorado), Austin (Texas) oder das schon heute beständig wachsende Atlanta in Georgia, Hauptsitz – unter anderen – von CNN und Coca Cola.

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Foto: Uncredited/NASA/AP/dpa »Florence« traf Regionen der US-Ostküste mit voller Härte. Hier ein Bild des Hurrikans von der US-Raumfahrtb­ehörde NASA
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Foto: AP/dpa/Steve Helber Folgen des Hurrikans »Florence« in North Carolina

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