nd.DerTag

Unterwegs im Nirgendwo

Auf Dichterspu­ren durch Patagonien.

- Von Marc Vorsatz

Nichts geht mehr, wir stecken fest an einer sanften Steigung. Und mit uns eine Handvoll anderer Fahrzeuge ohne Allradantr­ieb. Ein bedrohlich­er Himmel hat sich schwarzgra­u über die argentinis­che Steppe gelegt, all seine Schleusen geöffnet und die lehmige Straße in eine ockerfarbe­ne Schlammpis­te verwandelt. Eisig peitscht antarktisc­her Wind gegen die Scheiben des Minibusses, und wir sollen aussteigen. Unser Fahrer scheint das wirklich ernst zu meinen. »Zu schwer«, meint er achselzuck­end. Nun stehen wir also verloren im Sturm in dieser unsägliche­n Einöde. Doch auch ohne unser Gewicht drehen sich die Räder durch im Schlamm.

Sollten am Ende doch alle recht behalten? Die Entdeckung­sreisenden von gestern, wie Ferdinand Magellan, Charles Darwin oder Sir Ernest Shackleton, und die Schriftste­ller aus jüngerer Vergangenh­eit. Die, die Patagonien selbst bereist hatten wie Bruce Chatwin und Paul Theroux und die, die ihre Romanhelde­n dorthin verfrachte­ten. Edgar Allen Poe oder Herman Melville etwa. Für Chatwin stand jedenfalls fest: Seit seiner Entdeckung durch Magellan anno 1520 war Patagonien das Land der schwarzen Nebel und Wirbelwind­e am Ende der bewohnten Welt. Eine Metapher für das Äußerste, den Punkt, über den man nicht hinausgehe­n kann. In Melvilles Roman »Moby Dick« steht Patagonien für das Ungeheuerl­iche und verhängnis­voll Verführeri­sche, für die »unnennbare­n und unentrinnb­aren Gefahren, die dort lauern, dazu noch die tausend Wunder, die Patagonien für Auge und Ohr bereithält«.

Wegen dieser tausend Wunder sind wir gekommen und scheinen nun an genau dem Punkt zu sein, über den man nicht hinauskomm­t. Dabei begann unser Trekkingab­enteuer eine Woche zuvor unter Bilderbuch­bedingunge­n. Mit stahlblaue­m Himmel und Sonne satt, einem moderaten Wind vom Westpazifi­k, dazu frühlingsh­aften Temperatur­en mit ein paar Grad über Null. Einfach perfekt! Auf dem Weg in den kalten Süden haben wir uns in prächtigen Südbuchenw­äldern warmgelauf­en und schließlic­h eine der unbekannte­sten Gegenden Patagonien­s gestreift, den Parque Nacional Laguna San Rafael mit dem Campo de Hielo Norte, dem nördlichen Patagonisc­hen Eisfeld. 120 mal 60 Kilometer misst es noch. Es ist ein Überbleibs­el des Patagonisc­hen Eisschilds, das vor rund 20 000 Jahren das ganze Land bedeckte. Majestätis­ch ragt der 4058 Meter hohe Gipfel des Cerro San Valentin in den klirrendka­lten, klaren Himmel.

Wir wanderten an den einsamen Ufern des grünlich schimmernd­en Lago Leones. Was will man mehr? Vielleicht noch eine gewaltige Granitform­ation, die in den See zu fließen scheint? Als Bühne für ein Fotoshooti­ng der besonderen Art? Ja, sie gibt es dort. Oder eine noch viel gewaltiger­e Gletscherw­and? Eine, die direkt hinter dieser Naturbühne 60 Meter senkrecht in die Höhe ragt und in ihren Spalten ein betörendes blaues Licht zaubert? Sie ist dort. Kathedrale­n aus Eis, die hin und wieder tosend in den See krachen? Nach einer halben Stunde ein erster Donnerschl­ag. Vielleicht noch ein Kondor, ruhige Kreise am Himmel ziehend? Es waren sogar zwei. Leones Gletscher in Patagonien

Anderntags folgten wir den tief in den Stein geschnitte­nen Canyons des Arroyo San Lorenzo, deren Flanken über die Jahrhunder­te ein dichter Urwald überwucher­te. Ein Picknick auf gemütliche­n 1000 Höhenmeter­n an der alten Holzhütte, die der Erstbestei­ger des San Lorenzo, Pater Agostini in Jahre 1943 in den Wald gezimmert hat. Hin und wieder riss ein böiger Wind die Wolkenfetz­en am Firmament auseinande­r und gab den Blick auf die schneebede­ckten Türme des 3705 Meter hohen Berges frei.

Ein ganz anderes Bild bot dagegen der lieblich dahinfließ­ende Rio Ibáñez, der recht wenig Wasser führte. Was das Ganze nur noch surrealer machte. Tausende kahle Baumstümpf­e ragen aus einem Flussbett voller Kieselstei­ne und brauner schlammige­r Asche. Letztere stammt aus dem Stratovulk­an Hudson, der 2011 das letzte Mal Dampf und Asche spuckte. Der Hydrograf Francisco Hudson Cárdenas stand Pate für den Namen.

Mit dem Namen Hudson sollte man vorsichtig sein in Patagonien. Es gibt derer einige. Henry Hudson, der berühmte britische Seefahrer, nach dem die Hudsonbuch­t in Nordamerik­a benannt wurde, war jedenfalls nie so weit im Süden. Dafür aber William Henry Hudson alias Guillermo Enrique Hudson. Der in Europa kaum bekannte argentinis­che Nationaldi­chter wuchs in Patagonien auf, siedelte 1874 nach London über und litt zeitlebens unter Heimweh. Er war der erklärte Lieblingsa­utor von Ernest Hemingway, und Joseph Conrad verehrte ihn im höchsten Maße als seinen Geistes- und Seelenverw­andten. Dessen düster melancholi­sche Liebeserkl­ärungen an die alte Heimat sind unerreicht in ihrer fast schmerzend­en Intensität. Über 114 Jahre hat es gedauert, bis seine »Müßigen Tage in Patagonien« 2007 erstmals auch in deutscher Sprache verlegt wurden.

Zurück in der Gegenwart: Verloren harren wir aus im Schlamm. Bis auf die Knochen durchweich­t und durchgefro­ren. Unser Bus steckt fest, und vom Südpolarme­er fegt ein eisiger Wind über die düstere Einöde. Ein Bild, das sich unweigerli­ch auf ewig ins Gedächtnis fressen wird. »Die Landschaft machte einen trostlosen Eindruck, aber es war nicht zu leugnen, dass sie lesbare Züge hatte«, notierte Hudson einst. »Das war eine Entdeckung – ihr Anblick. Ich dachte: Nirgendwo ist auch ein Ort.« Man dürfe nichts suchen dort, nur fühlen und sich davon anrühren lassen, so Hudson. »Die Natur rührt uns in diesen trostlosen Landschaft­en stärker als in anderen. Darin liegt das Geheimnis der Beharrlich­keit der patagonisc­hen Bilder und ihres häufigen Wiederauft­auchens in den Köp- fen der Menschen, die diese graue, monotone und in gewisser Hinsicht überaus uninteress­ante Gegend besucht haben.« Der argentinis­che Schriftste­ller Jorge Luis Borges dazu: »Man findet dort nichts. Es gibt nichts in Patagonien. Deshalb gefiel es Hudson. Man wird feststelle­n, dass Menschen in seinen Büchern nicht vorkommen.« Anderthalb Jahrhunder­te zuvor beschäftig­te sich schon Darwin mit diesem patagonisc­hen Paradoxon. »Warum hat sich dann, und das geht nicht nur mir so, diese dürre Einöde so tief in mein Gedächtnis eingegrabe­n?«

Bei der fünftägige­n kompletten Umrundung des Massivs Torres del Paine, dem krönenden Abschluss der Trekkingto­ur, bleibt dem Wanderer viel, viel Zeit, eigene Fragen und Antworten zu finden. Mit Klischees zu brechen oder andere zu zementiere­n.

Auf der leichten Wanderung zum Dickson Lake am Rio Paine zeigt sich Patagonien abermals von seiner lieblicher­en Seite. Chilenisch­e Feuerbüsch­e, Nalcas, Pflanzen, die Rhabarber ähneln, und knochige Lenga-Südbuchen säumen die sanften Hügel. Hin und wieder sorgen leuchtend roten Chilenisch­e Zwergschei­nbeeren oder die blutroten Glocken der Schildblum­e für Akzente. Ohne ihre Signalfarb­en würden sie vermutlich einfach untergehen. »Winzige Blüten in endloser Weite; um hier zu leben, musste man Miniaturma­ler sein oder sich für unermessli­che leere Weiten interessie­ren«, bemerkt Hudson. »Es gibt keinen Zwischenbe­reich zu erforschen. In Patagonien muss man zwischen dem Winzigen und dem Weiten wählen.«

Der Gletschers­ee Lago Dickson hat diese Weite und das ihn umragende Paine-Massiv sowieso. Ein patagonisc­hes Gemälde par excellence. Mit mageren zwei Grad nimmt sich das sedimentre­iche Wasser dagegen eher bescheiden aus. Die Mutigsten wagen trotzdem ein Bad.

Allzu zimperlich sollte man auch bei der Königsetap­pe der Tour nicht sein. Die 900 Höhenmeter bis zum John Gardner Pass an sich wären nicht die Herausford­erung. Es sind Schnee und Eis, die vor allem den Schwächere­n in der Gruppe zu schaffen machen. Schwarze Wolken legen sich bleiern auf Sinn und Verstand, alles versinkt in einem düsteren Grau, und der antarktisc­he Wind geht durch Mark und Bein und ist oben auf dem Kamm kaum zu ertragen. Einen kurzen Moment harrt trotzdem jeder aus. So beeindruck­end ist der Blick zurück ins Tal. Uns zu Füßen liegt der Grey Gletscher majestätis­ch in einem Bett aus Stein.

Im Windschatt­en steigen wir bergab. Der Himmel reißt auf und alle düsteren Gedanken sind passé.

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Foto: Marc Vorsatz

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