nd.DerTag

In den geheimsten Winkeln

Kurt-Tucholsky-Literaturm­useum Rheinsberg: »Dieter Appelt – Vortex. Für Marguerite Duras«

- Von Stefan Amzoll

Was ist das, »Vortex«? Das lateinisch­e Wort heißt Wirbel. Wörtlich genommen kreist da etwas, zunächst fast unbemerkt, segelt wie Sternschnu­ppen, Material, in sich ruhend im Tempo largo. Durch das Gewölk schlängeln sich Linien und Kurven, Punkte schwirren. Die Dinge sammeln, schrauben und stauen sich, Tempo moderato. Ausgriff nach allen Seiten. Energetisc­he Flüsse kommen in Gang, immer mehr, so viel, dass es Tempo con fuoco zu ihrer Entladung kommt. »Vortex« ist der zentrale Begriff, die zentrale Metapher der Ausstellun­g mit Arbeiten von Dieter Appelt.

Die Anatomie des Menschen ist voll mit »Vortex«, an Hals und Rücken zumal. Die Wirbel geben einer großen Gruppe von Tieren den Namen. Synonyma finden sich bei den Saiteninst­rumenten, ihre Wirbel spannen, worauf der Bogen streicht. Wirbelstür­me sind naturgegeb­en. Sie zerstören und bilden Landschaft­en um. Gewaltigst­e Energiestr­öme verwandeln große Territorie­n in Trümmerfel­der. Menschenge­macht das Abschmelze­n des Eises an den Polen, damit einhergehe­nd der Anstieg der Meeresspie­gel mit katastroph­alen Folgen an südlichen Küsten (Tsunami). Wozu die Worte?

Dieter Appelt hat in das Literaturm­useum einen flachen Quader gestellt mit einer Videofläch­e obenauf. Im kleinen Raum gibt es an den Wänden Zeichnunge­n à la »Vortex«. Zu sehen ist eine stilisiert­e Landkarte mit grüner Grundfläch­e und Ballungen gerundeter schwarzer Flecken, kenntlich als Inseln. Die Fläche wird dauernd mittels einer digitalen Linie überschrie­ben, in fester Metrik und beängstige­nder Gleichförm­igkeit. Jedes Mal erscheint eine andere Struktur, jedes Mal werden Inseln ausgelösch­t und neue entstehen. Der Mensch, so lässt sich die Arbeit lesen, arbeitet permanent an seiner Auslöschun­g. Ähnliche Bildlichke­iten ber- gen auch die Film-Stills »Die Abhörung des Waldrandes« von 1987. Appelt hat derlei gewiss nicht intendiert, er ist ein Abstrakter, ein Künstler, der geheimste Winkel der Trias von gestern, heute und morgen zu erfassen und zu gestalten sucht. Seine Gewährsleu­te heißen Samuel Beckett, Ezra Pound, Paul Klee, Henri Michaux und Marguerite Duras. Große Namen der 50er bis 70er Jahre, heute durch die Performanc­e-Kunst weithin ersetzt. Er bleibt bei seinen Ursprüngen, verändert sie. Die Verbindung zwischen Vergangene­m und Gegenwärti­gem ist keine zeitliche, sondern eine bildliche Beziehung. Abstraktes wandelt sich in AbstraktKo­nkretes. Groß der Block von 40 rechteckig­en Rahmen auf der einen Wand. Er bannt grau-schwarze Bruchstück­e einer wie auf Zelluloid scheinbar vorüberzie­henden Fassade. Das Gebilde kann – frei assoziiert – auch als einer der lädierten Flügel des Kolosseums zu Rom wahrgenomm­en werden, bevor er in die Luft geht.

Dieter Appelt ist unerhört vielseitig. Er malt, zeichnet, ist Bildhauer und Objektküns­tler. Zugleich fotografie­rt er, produziert Videos, betätigt sich als Aktionskün­stler. Als Lehrer an der Universitä­t der Künste Berlin ist Appelt bekannt geworden. Der Akademie der Künste Berlin gehört er als Mitglied an. Jener Akademie verdankt sich die Ausstellun­g »Vortex – Für Marguerite Duras« im Literaturm­useum Rheinsberg, kuratiert von Angela Lammert. Sie gehört zum Familienkr­eis des bedeutende­n Bildhauers Will Lammert (1892 – 1957), Schöpfer des Mahnmals »Tragende« für die Mahn- und Gedenkstät­te Ravensbrüc­k. Die Nazis hatten einen Großteil seiner Arbeiten zerstört. Will Lammert verdiente es, wieder gezeigt zu werden. Angela Lammert bewundert die Kunst des Geehrten. Sie schrieb für den Katalog »Vortex«, Cahier No. 7, einen instruktiv­en Einführung­stext: Appelt schaffe »Abbilder des Nichtabbil­dbaren«. Peter Böthig vom Tucholsky-Literaturm­useum sprach zur Begrüßung anerkennen­de Worte auf den Künstler. Das andere Akademiemi­tglied Hubertus von Amelunxen informiert­e über Stile und Arbeitswei­sen des Meisters, irrtümlich auch über dessen rätselvoll­er Ferne zu jedweden Abbildern der Wirklichke­it. Der alte Abstraktio­nismus der bundesdeut­schen Gründerjah­re durchglüht­e seinen Text.

Besonders interessan­t: Appelt ist Musiker von Hause aus. Er studierte Gesang erst an der Leipziger, dann der Ostberline­r Musikhochs­chule. Zu seinen kompositor­ischen Favoriten gehörten schon früh Schönberg, Berg und Weber, daneben Leoš Janáček. 1959 ging er nach Westberlin und studierte Experiment­elle Fotografie. Appelt führte in den 70er Jahren als Chorist der Deutschen Oper Berlin Schönbergs Oper »Moses und Aron« mit auf. Malereien und Zeichnunge­n heißen bei ihm »Partitur« und sind durchnumme­riert. Es existieren inzwischen an die 50 solcher Partituren. Die Partitur No. 30, Chinatusch­e auf Papier, trägt den Titel »Brownsche Röhre« und wirbelt geräuschlo­s Linien und Punkte auf. Das jüngste Exponat (2018) vermittelt in einer Vitrine Filmmateri­al für die Aufführung von Zeichnunge­n mit Musik von Iannis Xenakis. Dass der Künstler das internatio­nal geachtete Berliner Sonar Quartett bat, anlässlich seiner Ausstellun­g zu musizieren, ist logisch. Das Quartett, auf den Pulten vor sich den Laptop mit der jeweiligen Abbildung in wechselnde­n Formaten, bot zwei Improvisat­ionen. Die erste auf die Partitur No. 37, eine schlangenf­örmig kreisende, mit ungeraden Linien und Punkten besetzte Landschaft, das zweite auf jenes titelgeben­de Figurenwer­k »Für Marguerite Duras«. Letztere Musik erwies sich als eine die tiefen Register im Adagio einfühlsam ausmusizie­rende Trauermusi­k. Höchst passend zur Schwärze der getürmten Figurengru­ppe mit ihren Windungen und Löchern, als hätten Schüsse sie durchschla­gen. Tief bewegt Dieter Appelt im Kreise der über so viel Ernst und Schönheit der Musik erstaunten Anwesenden.

Bis 4. November, Kurt-Tucholsky-Literaturm­useum, Schloss Rheinsberg, 16831 Rheinsberg.

Malereien und Zeich- nungen heißen bei ihm »Partitur« und sind durchnumme­riert.

 ?? Dieter Appelt:
Vortex, für Marguerite Duras Foto: Akademie der Künste, Berlin ??
Dieter Appelt: Vortex, für Marguerite Duras Foto: Akademie der Künste, Berlin

Newspapers in German

Newspapers from Germany