In den geheimsten Winkeln
Kurt-Tucholsky-Literaturmuseum Rheinsberg: »Dieter Appelt – Vortex. Für Marguerite Duras«
Was ist das, »Vortex«? Das lateinische Wort heißt Wirbel. Wörtlich genommen kreist da etwas, zunächst fast unbemerkt, segelt wie Sternschnuppen, Material, in sich ruhend im Tempo largo. Durch das Gewölk schlängeln sich Linien und Kurven, Punkte schwirren. Die Dinge sammeln, schrauben und stauen sich, Tempo moderato. Ausgriff nach allen Seiten. Energetische Flüsse kommen in Gang, immer mehr, so viel, dass es Tempo con fuoco zu ihrer Entladung kommt. »Vortex« ist der zentrale Begriff, die zentrale Metapher der Ausstellung mit Arbeiten von Dieter Appelt.
Die Anatomie des Menschen ist voll mit »Vortex«, an Hals und Rücken zumal. Die Wirbel geben einer großen Gruppe von Tieren den Namen. Synonyma finden sich bei den Saiteninstrumenten, ihre Wirbel spannen, worauf der Bogen streicht. Wirbelstürme sind naturgegeben. Sie zerstören und bilden Landschaften um. Gewaltigste Energieströme verwandeln große Territorien in Trümmerfelder. Menschengemacht das Abschmelzen des Eises an den Polen, damit einhergehend der Anstieg der Meeresspiegel mit katastrophalen Folgen an südlichen Küsten (Tsunami). Wozu die Worte?
Dieter Appelt hat in das Literaturmuseum einen flachen Quader gestellt mit einer Videofläche obenauf. Im kleinen Raum gibt es an den Wänden Zeichnungen à la »Vortex«. Zu sehen ist eine stilisierte Landkarte mit grüner Grundfläche und Ballungen gerundeter schwarzer Flecken, kenntlich als Inseln. Die Fläche wird dauernd mittels einer digitalen Linie überschrieben, in fester Metrik und beängstigender Gleichförmigkeit. Jedes Mal erscheint eine andere Struktur, jedes Mal werden Inseln ausgelöscht und neue entstehen. Der Mensch, so lässt sich die Arbeit lesen, arbeitet permanent an seiner Auslöschung. Ähnliche Bildlichkeiten ber- gen auch die Film-Stills »Die Abhörung des Waldrandes« von 1987. Appelt hat derlei gewiss nicht intendiert, er ist ein Abstrakter, ein Künstler, der geheimste Winkel der Trias von gestern, heute und morgen zu erfassen und zu gestalten sucht. Seine Gewährsleute heißen Samuel Beckett, Ezra Pound, Paul Klee, Henri Michaux und Marguerite Duras. Große Namen der 50er bis 70er Jahre, heute durch die Performance-Kunst weithin ersetzt. Er bleibt bei seinen Ursprüngen, verändert sie. Die Verbindung zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem ist keine zeitliche, sondern eine bildliche Beziehung. Abstraktes wandelt sich in AbstraktKonkretes. Groß der Block von 40 rechteckigen Rahmen auf der einen Wand. Er bannt grau-schwarze Bruchstücke einer wie auf Zelluloid scheinbar vorüberziehenden Fassade. Das Gebilde kann – frei assoziiert – auch als einer der lädierten Flügel des Kolosseums zu Rom wahrgenommen werden, bevor er in die Luft geht.
Dieter Appelt ist unerhört vielseitig. Er malt, zeichnet, ist Bildhauer und Objektkünstler. Zugleich fotografiert er, produziert Videos, betätigt sich als Aktionskünstler. Als Lehrer an der Universität der Künste Berlin ist Appelt bekannt geworden. Der Akademie der Künste Berlin gehört er als Mitglied an. Jener Akademie verdankt sich die Ausstellung »Vortex – Für Marguerite Duras« im Literaturmuseum Rheinsberg, kuratiert von Angela Lammert. Sie gehört zum Familienkreis des bedeutenden Bildhauers Will Lammert (1892 – 1957), Schöpfer des Mahnmals »Tragende« für die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Die Nazis hatten einen Großteil seiner Arbeiten zerstört. Will Lammert verdiente es, wieder gezeigt zu werden. Angela Lammert bewundert die Kunst des Geehrten. Sie schrieb für den Katalog »Vortex«, Cahier No. 7, einen instruktiven Einführungstext: Appelt schaffe »Abbilder des Nichtabbildbaren«. Peter Böthig vom Tucholsky-Literaturmuseum sprach zur Begrüßung anerkennende Worte auf den Künstler. Das andere Akademiemitglied Hubertus von Amelunxen informierte über Stile und Arbeitsweisen des Meisters, irrtümlich auch über dessen rätselvoller Ferne zu jedweden Abbildern der Wirklichkeit. Der alte Abstraktionismus der bundesdeutschen Gründerjahre durchglühte seinen Text.
Besonders interessant: Appelt ist Musiker von Hause aus. Er studierte Gesang erst an der Leipziger, dann der Ostberliner Musikhochschule. Zu seinen kompositorischen Favoriten gehörten schon früh Schönberg, Berg und Weber, daneben Leoš Janáček. 1959 ging er nach Westberlin und studierte Experimentelle Fotografie. Appelt führte in den 70er Jahren als Chorist der Deutschen Oper Berlin Schönbergs Oper »Moses und Aron« mit auf. Malereien und Zeichnungen heißen bei ihm »Partitur« und sind durchnummeriert. Es existieren inzwischen an die 50 solcher Partituren. Die Partitur No. 30, Chinatusche auf Papier, trägt den Titel »Brownsche Röhre« und wirbelt geräuschlos Linien und Punkte auf. Das jüngste Exponat (2018) vermittelt in einer Vitrine Filmmaterial für die Aufführung von Zeichnungen mit Musik von Iannis Xenakis. Dass der Künstler das international geachtete Berliner Sonar Quartett bat, anlässlich seiner Ausstellung zu musizieren, ist logisch. Das Quartett, auf den Pulten vor sich den Laptop mit der jeweiligen Abbildung in wechselnden Formaten, bot zwei Improvisationen. Die erste auf die Partitur No. 37, eine schlangenförmig kreisende, mit ungeraden Linien und Punkten besetzte Landschaft, das zweite auf jenes titelgebende Figurenwerk »Für Marguerite Duras«. Letztere Musik erwies sich als eine die tiefen Register im Adagio einfühlsam ausmusizierende Trauermusik. Höchst passend zur Schwärze der getürmten Figurengruppe mit ihren Windungen und Löchern, als hätten Schüsse sie durchschlagen. Tief bewegt Dieter Appelt im Kreise der über so viel Ernst und Schönheit der Musik erstaunten Anwesenden.
Bis 4. November, Kurt-Tucholsky-Literaturmuseum, Schloss Rheinsberg, 16831 Rheinsberg.
Malereien und Zeich- nungen heißen bei ihm »Partitur« und sind durchnummeriert.