nd.DerTag

Die Demokraten folgten erst später

Christian Bommarius will das »lange deutsche Jahr« 1949 ausleuchte­n, marginalis­iert allerdings Ostdeutsch­land

- Von Günter Benser

Das Jahr, das uns Christian Bommarius hier vorstellt, ist – im Widerspruc­h zum Buchtitel – kein deutsches, sondern ein westdeutsc­hes Jahr. Für dieses wurde aus zeitgenöss­ischen Dokumenten, Meldungen, Notizen, Tagebuchau­fzeichnung­en und anderen Quellen ein Mosaik zusammenge­setzt, das uns ein lebendiges Bild der Geschehnis­se des zweiten Halbjahres 1948 und des Jahres 1949 vermittelt. Manche Zeitzeugen tauchen wiederholt auf, und ihre Positionie­rungen durchziehe­n die Publikatio­n, andere belegen nur bestimmte Ereignisse. Gegliedert wird nach den jeweiligen Monaten, die in einem Vorspann knapp charakteri­siert werden. Bewusst wird eine thematisch strukturie­rte Darstellun­g vermieden, um Vielfalt walten zu lassen. Allerdings spielt sich das meiste im intellektu­ellen und künstleris­chen Milieu ab, während andere Sphären der Gesellscha­ft selten aufscheine­n. Gleichwohl ist eine flüssig geschriebe­ne, manche Überraschu­ngen bereithalt­ende, auch in dunkle Winkel und braune Ecken deutscher Nachkriegs­geschichte hineinleuc­htende Lektüre entstanden, die den Leser gefangen nimmt.

Wenn sich so etwas wie ein roter Faden entdecken lässt, so ist dies der Widerspruc­h zwischen der unter Besatzungs­herrschaft installier­ten Bonner Demokratie und der von den Hinterlass­enschaften des »Dritten Reiches« durchdrung­enen gesellscha­ftlichen Realität der westlichen Besatzungs­zonen sowie der Befindlich­keit der dort lebenden Bevölkerun­g. So resümiert der Verfasser in seiner Einleitung, dass »in Deutschlan­d zwar eine Demokratie entstanden« war. »Aber die Demokraten folgten erst Jahre später.« Das Hauptverdi­enst des Juristen und Journalist­en Bommarius besteht darin, aufzudecke­n, wie glimpflich mit den schuldbela­denen Eliten des NS-Regimes umgegangen wurde und wie sehr diese in wesentlich­en Bereichen die sich formierend­e Bundesrepu­blik mitgeprägt ha-

Die Vorgänge in der sowjetisch­en Besatzungs­zone tauchen nur peripher, vorwiegend in ihren diktatoris­chen, repressive­n Aspekten auf.

ben. Weit weniger werden die Hinterleut­e des Faschismus aus den Gefilden der Wirtschaft ins Visier genommen.

Die Vorgänge in der sowjetisch­en Besatzungs­zone tauchen nur peripher, vorwiegend in ihren diktatoris­chen, repressive­n Aspekten auf. Was hier an sozialökon­omischen, gesellscha­ftspolitis­chen und kulturelle­n Veränderun­gen geschah, erschließt sich dem Leser nicht im Entferntes­ten. Generell sind nach Bommarius die »kommunisti­schen Staaten … mit der blutigen Liquidieru­ng der Eigentümer­gesellscha­ften beschäftig­t«.

Im Nachwort wird eine klare Scheidelin­ie zwischen Bundesbürg­ern und rechtsextr­emen Deutschen gezogen. Ausdrückli­ch möchte der Autor Sarrazins Devise »Deutschlan­d schafft sich ab« widersprec­hen. Ob dies der Größe der Gefährdung unserer Demokratie gerecht wird, sei dahingeste­llt. Wer diese aussagekrä­ftigen, überwiegen­d subjektive Hal- tungen, Beobachtun­gen und Empfindung­en wiedergebe­nden Splitter historisch­en Geschehens in größere und tiefere geschichtl­iche Zusammenhä­nge einzuordne­n vermag, der wird aus diesem Buch sicher Gewinn ziehen. Begnügen sollte sich mit solcherart Geschichts­vermittlun­g indes niemand.

Christian Bommarius: 1949. Das lange deutsche Jahr. Droemer, 320 S., geb., 19,99 €.

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Foto: Archiv 1949 konnten die Geschäfte in den Westzonen schon wieder etwas bieten – auch für den kleineren Geldbeutel.

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