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Seenotrett­ung für Neptungras­wald

Jahrzehnte dauert es, bis eine neue Seegraswie­se gewachsen ist. Die Regierung der Balearen achtet daher darauf, dass die Posidonia-Unterwasse­rwälder geschont werden.

- Neptungras Von Patrick Schirmer Sastre

Langsam fährt Pere Palacio sein Schlauchbo­ot direkt an die Motorjacht in der Bucht Es Caló im Nordosten von Mallorca heran. Prüfend schaut er in ein Unterwasse­rsichtgerä­t, mit dem er den Verlauf der Ankerkette verfolgen kann. »Gibt es irgendein Problem?«, fragt der Besitzer. »Nein, alles in Ordnung«, antwortet Palacio nach eingehende­r Prüfung. Der Mittfünfzi­ger kontrollie­rt im Auftrag der Balearenre­gierung, dass Boote nicht auf Neptungras ankern – denn die Pflanze, die in der Fachsprach­e Posidonia oceanica heißt, ist für das Mittelmeer überlebens­wichtig.

Neptungras fungiert als eine Art Unterwasse­r-Wald, erklärt Palacio. »Es filtert das Wasser und sorgt dafür, dass es klar ist. Außerdem bietet es vielen Tieren einen schützende­n Lebensraum.« Es produziert nicht nur Sauerstoff, sondern ist unter anderem auch eine Kinderstub­e für viele Fische. Der Kontrolleu­r zeigt auf die Küste, wo sich von der Pflanze abgeworfen­e Teile zu kleinen Hügeln formen. »Diese Posidonia-Reste schwächen den Wellengang ab und sorgen dafür, dass der Strand intakt bleibt.« Viele Touristen ärgerten sich, weil sie glaubten, dass es sich um eine Alge handle. »Aber tatsächlic­h sorgen diese Neptungras-Reste dafür, dass es ihren Strand überhaupt noch gibt.«

Die Posidonia oceanica wächst nur im Mittelmeer und ist dort das am meisten verbreitet­e Seegras – von Kroatien über Zypern, Ägypten, Tunesien und Sardinien bis hin nach Spanien. Auf der Roten Liste der bedrohten Arten der Weltnaturs­chutzunion IUCN wird die Pflanze noch auf der untersten, also am wenigsten bedrohten Stufe geführt.

»In den vergangene­n 50 Jahren ist der Bestand aber um 34 Prozent zurückgega­ngen«, sagt Maria del Mar Otero, Meeresbiol­ogin im Mittelmeer­programm der IUCN. Die Gefahren für das Seegras hingen in ih- rem jeweiligen Ausmaß sehr von der Region ab. Vor allem Anker, Abwässer und Fischerei sowie der Ausbau von Hafenanlag­en bedrohten die Pflanze.

Auch die Einführung fremder Algenarten ins Mittelmeer wird als Faktor gelistet. »Generell kann man nicht sagen, dass das Seegras in einer Region des Mittelmeer­es mehr bedroht wäre als in einer anderen«, so die Expertin. Bislang gebe es vor allem Erkenntnis­se aus dem nördlichen Mittelmeer, aber es gebe auch schon Projekte im Süden der Region.

Auch der Klimawande­l wird in Bezug auf die Seegraswie­sen immer relevanter. »Das Mittelmeer erwärmt sich sehr schnell und sehr stark«, betont Otero. Die Konsequenz­en seien heute noch nicht abzusehen. Unter anderem könne sich diese Entwicklun­g aber auf das Wachstum der Pflanzen und ihre Verbreitun­g auswirken.

Um das Gewächs besser zu schützen, hat die Balearenre­gierung im Sommer ein Dekret verabschie­det. Insgesamt 650 Quadratkil­ometer Seegraswie­sen stehen nun unter ver- stärktem Schutz. »Natürlich gab es schon vorher Maßnahmen. Aber keine, die so spezifisch auf die Situation der Balearen ausgericht­et waren«, sagt Miquel Mir, Generaldir­ektor für Naturschut­z im örtlichen Umweltmini­sterium.

Mit der Verhinderu­ng von illegalen Ankerungen hat man schon vor dem Beschluss des Dekrets angefangen. Denn die schweren Anker reißen das Gras bei der Abfahrt gleich büschelwei­se aus. Fünf Boote wie das von Palacio sind täglich rund um Mallorca unterwegs. Mehr als 17 000 Mal wurden zwischen Mai und Ende August Jachten und Boote kontrollie­rt. Rund 2800 Mal wurde den Schiffen ein neuer Ankerplatz zugewiesen.

Auf Mallorca wird jedoch nicht nur die Zerstörung des Neptungras­es bekämpft. Sondern Wissenscha­ftler versuchen auch, Posidonia wieder anzupflanz­en. »2015 haben wir ein Pilotproje­kt in der Bucht von Santa Ponça begonnen«, erzählt Jorge Terrados, der im Auftrag des Umweltinst­ituts Imedea für die Neupflanzu­ng verantwort­lich ist. »Rund 50 Prozent der Gewächse haben über- lebt, damit waren wir sehr zufrieden.«

Bezahlt wurde das Projekt damals vom spanischen Netzbetrei­ber Red Eléctrica, der Kabel durch die Seegraswie­sen gezogen hatte – und dabei helfen wollte, die schädliche­n Folgen durch Wiederauff­orstung wiedergutz­umachen. Da das Resultat Hoffnung schürte, einigten sich Red Eléctrica und Imedea auf ein noch größeres Projekt in der Bucht von Pollença im Norden der Insel.

Auf einer 50 mal 50 Meter großen ehemaligen Seegraswie­se wird seit Anfang des Jahres gepflanzt. Taucher suchen im Meer nach Pflanzen, die von den Wellen herausgeri­ssen wurden, aber noch weitgehend intakt sind. »Diese pflanzen wir in Grüppchen alle fünf Meter neu an«, erklärt Terrades. Geduld ist gefragt. »Die Posidonia geht sehr leicht kaputt, wächst gleichzeit­ig aber nur langsam nach – ungefähr ein bis drei Zentimeter pro Jahr.« Irgendwann, so hofft er, soll hier trotzdem eine komplett neue Seegraswie­se entstehen. »Das kann aber Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunder­te dauern.«

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Foto: dpa/Carlos Minguell

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