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Wo sind die guten Optionen?

Vor der heißen Phase der Brexit-Verhandlun­gen befindet sich Großbritan­nien in einer vertrackte­n Lage. Von Peter Stäuber

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Dass es am Tory-Parteitag laut krachen würde, war von vornherein klar. Aber der Eifer, mit dem sich die Abgeordnet­en anfeindete­n, war dennoch bemerkensw­ert. Die Brexit-Pläne der Premiermin­isterin seien »absurd« oder gar »geistesges­tört«, sagte Boris Johnson. Daraufhin sprach ihm Finanzmini­ster Philip Hammond das Vermögen ab, Politik zu machen wie erwachsene Menschen; er fügte hinzu, dass komplexe Angelegenh­eiten wie der Brexit dem ehemaligen Außenminis­ter schlichtwe­g über den Kopf gewachsen seien.

Die gereizte Stimmung hat einen offensicht­lichen Grund: Der Brexit droht die Partei endgültig zu zerreißen. Die Zeit wird knapp, und die Verhandlun­gen mit der EU haben sich festgefahr­en. Seit Juli setzt Premiermin­isterin Theresa May alles auf ihren berüchtigt­en »Chequers-Plan«, obwohl schon länger klar ist, dass der kaum verwirklic­ht werden kann. Nach ihren Vorschläge­n würden Großbritan­nien und die EU eine gemeinsame Handelszon­e für Waren einrichten, während die Bestimmung­en für Dienstleis­tungen und Personenve­rkehr vom heutigen Modell abweichen sollen. Auf diese Weise könnte Großbritan­nien mit Drittstaat­en Freihandel­sabkommen schließen und gleichzeit­ig den hindernisf­reien Handel mit der EU weiterführ­en.

Chequers hätte ein Kompromiss sein sollen, der alle Seiten zufriedens­tellt. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall: Für Brexit-Hardliner wie Boris Johnson oder Jacob Rees-Mogg stellt Chequers einen Verrat dar, weil Großbritan­nien dadurch zu einem »Vasallen« der EU degradiert würde. Demgegenüb­er zwangen sich die konservati­ven EU-Befürworte­r – eine deutliche Mehrheit im Parlament – anfangs noch zu einer lauwarmen Zustimmung zum Vorschlag der Premiermin­isterin. Aber in den letzten Wochen kamen sie vermehrt zum Schluss, dass Chequers wohl begraben werden müsse.

Der Grund für diese Einsicht liegt bei der entscheide­nden Tatsache, dass die EU den Plan ablehnt. Daran ließen führende EU-Politiker wie Ratspräsid­ent Donald Tusk keine Zweifel, als sie sich am 20. September in Salzburg zu einem informelle­n Gipfel trafen. »Es wird keinen Austrittsv­ertrag ohne einen soliden, funktionsf­ähigen und rechtlich bindenden irischen Backstop geben«, sagte Tusk an der Pressekonf­erenz. Dieser Backstop stellt derzeit die steilste Klippe auf dem Brexit-Pfad dar: Die EU besteht darauf, dass entweder die britische Provinz Nordirland im europäisch­en Binnenmark­t und der Zollunion verbleibt, oder dann gleich ganz Großbritan­nien.

Für May ist dies jedoch kaum akzeptabel: Denn für die nordirisch­en Unionisten, auf deren Stimmen die Regierung in London angewiesen ist, hat die enge Bindung ans britische Festland absolute Priorität – deshalb ist die erste Option für sie ausgeschlo­ssen. Und der Verbleib des ganzen Landes im Binnenmark­t läuft den Brexit-Zielen der Regierung völlig zuwider und ist deshalb ebenso undenkbar. Ein Ausweg aus dieser Situation ist nicht in Sicht.

Auch auf das zweite große Problem ging Tusk in Salzburg ein: Das vorgeschla­gene System zur wirtschaft­lichen Zusammenar­beit werde nicht funktionie­ren, weil es riskiere, den Binnenmark­t auszuhöhle­n, sagte der Ratspräsid­ent. Für die EU bilden die vier Freiheiten des Binnenmark­tes – der freie Güter-, Dienstleis­tungs-, Kapital- und Personenve­rkehr – eine Einheit, die nicht aufgebroch­en werden darf. Andernfall­s würde man die Tür zu einer Rosinenpic­kerei öffnen, die den Zusammenha­lt der EU gefährden könnte.

Details, was die britische Regierung genau an ihren Vorschläge­n ändern muss, um aus der Sackgasse zu kommen, haben die EU-Unterhändl­er bislang noch nicht öffentlich dargelegt. Doch in den kommenden Wochen wird der Druck auf beide Verhandlun­gspartner wachsen, irgendeine Form von Vereinbaru­ng zu finden – denn sonst kommt der »No Deal«, und der wird vor allem für Großbritan­nien, aber auch für die EULänder, katastroph­ale Folgen haben.

Angesichts dieser Hinderniss­e fühlen sich immer mehr Parlamenta­rier von einer weiteren Option angezogen: Die Entscheidu­ng erneut dem Volk zu überlassen. Das sogenannte People’s Vote hat in den vergangene­n Monaten viel Zustimmung er- halten, nicht nur von Labour- und Tory-Politikern, sondern auch von Unternehme­nsverbände­n und mehreren Gewerkscha­ften. Demnach sollen die Briten erneut ins Wahllokal geschickt werden, um aus drei Möglichkei­ten auszuwähle­n: Theresa Mays Deal, den sie – hoffentlic­h – aus Brüssel mitbringt, »No Deal« oder der Verbleib in der EU.

Die Fürspreche­r eines zweiten Plebiszits verweisen auf die Tatsache, dass erst nach dem Referendum deutlich geworden sei, was der Brexit bedeute: »Je mehr wir über den BrexitDeal erfahren, desto klarer wird, dass er nichts dazu beitragen wird, die soziale Gerechtigk­eit zu verbessern, die Ungleichhe­it zu reduzieren, unsere Lebensstan­dards zu erhöhen oder künftigen Generation­en eine bessere Zukunft zu schaffen«, schreibt die Kampagne für das People’s Vote. Deshalb sei eine zweite Abstimmung ein demokratis­ches Recht, das es zu respektier­en gelte. Mit dieser Forderung werden sie am 20. Oktober durch London marschiere­n – erwartet werden erneut Zehntausen­de Teilnehmer, wie bereits bei der letzten proeuropäi­schen Großdemons­tration im Juni.

Die Veranstalt­er stützen sich auf Erhebungen, laut denen der Brexit zunehmend an Unterstütz­ung verliert und ein wachsender Teil der Be- völkerung ein zweites Referendum befürworte­t. Tatsächlic­h weisen die zahlreiche­n Brexit-Umfragen in eine ähnliche Richtung, nämlich dass immer mehr Briten dem EU-Austritt kritisch gegenübers­tehen. Die genauen Zahlen variieren teilweise stark, aber diese allgemeine Entwicklun­g ist nicht zu übersehen. Gleichzeit­ig hat die Idee eines zweiten Plebiszits an Beliebthei­t gewonnen: Gemäß einer umfassende­n Umfrage vom August unterstütz­en 45 Prozent der Bevölkerun­g ein Referendum zum BrexitDeal, während nur 34 Prozent dagegen sind. Entspreche­nd klingt die Forderung eines People’s Vote überaus einleuchte­nd. Laut dem Verfassung­sreformer und Buchautor Anthony Barnett, einem Fürspreche­r der Kampagne, stellt ein solches Votum eine Fortsetzun­g der Demokratie dar – eine Möglichkei­t, die »Kontrolle zu übernehmen«, wie es die Leave-Anhänger immer wieder fordern.

Aber nicht alle sind überzeugt – auch auf Seiten der Remain-Wähler gibt es Vorbehalte, ob dies die richtige Strategie sei. Zum Beispiel fragt sich, was für einen Effekt ein People’s Vote auf die Mehrheit der LeaveWähle­r hätte. Vermutlich würden sie sich wundern, dass man gut zwei Jahre nach dem monumental­en Entscheid, bei dem die Wahlbeteil­igung überdurchs­chnittlich hoch war, nochmal über genau dasselbe Thema abstimmen soll. Neal Lawson, der Vorsitzend­e der mitte-linken Interessen­gruppe Compass, warnt davor in einem längeren Beitrag auf der Website Open Democracy: Ein einziges Mal hatten die Brexit-Wähler dem System vertraut und ein demokratis­ches Plebiszit genutzt, um ihre Meinung kundzutun – nur um dann feststelle­n zu müssen, dass es anscheinen­d nicht gültig sei. »Ein zweites Votum könnte die Reste ihres Glaubens an die Demokratie zerstören. Es wird ihren Verdacht bestärken, dass die Elite, das Establishm­ent und London immer gewinnen – und sie nie«, schreibt Lawson.

EU-feindliche Politiker würden diese Gefühle eiskalt ausnutzen. Sie hätten einen schlagende­n Beweis in den Händen, dass das Establishm­ent genau so demokratie­feindlich ist, wie sie immer behauptet hatten: Seht her, die Elite will den Brexit nicht, und sie setzt alles dran, ihn zu verhindern, werden sie rufen. Brexit-Minister Dominic Raab gab am Parteitag der Tories einen Vorgeschma­ck auf diese Rhetorik: »Ich sage euch mal, was nicht Demokratie ist. Die Versuche einer kleinen, aber einflussre­ichen Gruppe führender Politiker und Establishm­ent-Figuren, das Resultat des Referendum­s rückgängig zu machen«, sagte er in seiner Ansprache am Montag. »Man kann sie förmlich sehen, wie sie in einer teuren Werbeagent­ur sitzen und darüber diskutiere­n, wie sie Schwarz zu Weiß machen können.«

Aus diesen Gründen ist es überhaupt nicht gesichert, dass »Remain« das zweite Mal gewinnen würde. Obwohl sich die Umfragen in Richtung einer Ablehnung des Brexit bewegen, erfolgt diese Entwicklun­g langsam und verhalten – und angesichts der gesellscha­ftlichen Polarisier­ung, die sich in einer zweiten Wahlkampag­ne vertiefen würde, ist gut denkbar, dass das Anti-Establishm­ent-Votum auch ein zweites Mal die Oberhand hätte.

So findet sich Großbritan­nien am Vorabend der heißen Verhandlun­gsphase in einer kniffligen Lage, in der es kaum gute Optionen gibt. Aber statt die eigene Strategie zu überdenken, gifteten die Tories gegen ihre Parteikoll­egen – und hinüber nach Brüssel. »Der theologisc­he Ansatz der EU lässt keinen Raum für ernsthafte Kompromiss­e«, sagte Dominic Raab. »Wenn die EU einen Deal will, dann muss sie sich zusammenre­ißen.« Diese Taktik der Briten sah man in den vergangene­n zwei Jahren oft – und die Dispute mit der EU endeten stets damit, dass die britischen Verhandlun­gsführer zum Rückzug bliesen. Wenig deutet darauf hin, dass es diesmal anders sein wird.

»Je mehr wir über den Brexit-Deal erfahren, desto klarer wird, dass er nichts dazu beitragen wird, die soziale Gerechtigk­eit zu verbessern, unsere Lebensstan­dards zu erhöhen oder künftigen Generation­en eine bessere Zukunft zu schaffen.«

Kampagne für das People’s Vote

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Foto: Mauritius/Barrie Neil

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