Geschichten am Wegrand
Georgien ist ein mystisches Land – und voll von überraschenden literarischen Spuren
Ganz egal, wohin man in dem Land im Kaukasus an der Grenze zwischen Europa und Asien fährt – überall trifft man auf die Überbleibsel der sowjetischen Geschichte. Für Russlands Dichter ist Georgien ein Sehnsuchtsort. Tolstoi entdeckte hier im Süden das »Land der großen Schicksale«, Puschkin die »wilde Freiheit«. Pasternak sah eine Chimäre – der Kopf westlich, der Rumpf östlich. Paustowski aber fand in Georgien das sozialistische Paradies. »Ich vermisse dich, Tiflis, / und das Funkeln deiner Lichter, / die Balkone, fein wie Spitze, / über dem Fluss.« Das schrieb Jewgeni Jewtuschenko (1932 – 2017), der Popstar und Provokateur, der Poet des Tauwetters nach Stalins Tod. »Ich vermisse die Frau, die ihre Waren anpreist, / und die Schönheit des Einfachen / in den Blicken eines wachen Mädchens. / Ich vermisse es wie mein Zuhause, / mein Tiflis vergangener Tage.«
Die »Vasil Barnov«, eine Straße unweit der Altstadt. Häuser und Mauern aus rotem Stein, kleine Gärten. Das »O, Moda, Moda« ist nicht nur ein Laden, es ist auch Café. Wenig Möbel, an der Wand Grafiken, dazu Bilder aus dem Kaukasus. Von dort stammt die Familie. Anna – Jahrgang 1968, schmale Augen, dunkles Haar – ist Slawistin, Journalistin, Übersetzerin, Professorin. Und eine starke literarische Stimme, die auch auf der diesjährigen Literaturmesse in Frankfurt am Main vertreten sein wird. Die Autorin schreibt offen über die Gefühle von Frauen in einer Welt der Männer, für manche Herren ist das zu viel. Anna äfft sie nach: »Warum muss eine Frau Schriftstellerin werden? Ist sie hässlich oder was?« Sie sitzt in der Küche vor ihrem roten Kühlschrank, sie raucht und sagt: »Georgien macht jeden zum Narren, der eine Voraussage wagt.«
Eine Fahrt durch Georgien ist eine Reise durch eine surreale Landschaft. Schnellstraßen sind hell erleuchtet; alle hundert Meter eine Laterne, ein Symbol: Nach düsteren Jahren hat die Zukunft begonnen. Und noch ein Symbol: Die Polizei residiert in Palästen aus Glas. Aber Kühe stehen auf den Fernstraßen, immer wieder, sie rücken keinen Zentimeter. Gibt es Unfälle mit den Rindviechern? »Viele«, sagt der Fahrer.
Gori, 85 Kilometer nordwestlich von Tbilissi, aus dem das zaristische Russland im 19. Jahrhundert die für indogermanische Zungen geläufigere Variante Tiflis machte: Die Grenze zu Süd-Ossetien ist nahe, noch ein Konflikt. Das Städtchen hätte nichts, wenn es IHN nicht hätte. Sein Denkmal wurde kürzlich gestürzt, doch es gibt eine Allee und den Park mit seinem Namen. Hier steht die Hütte, in der er 1879 zur Welt kam. An diesem Fleck hat er die ersten Jahre seines Lebens verbracht: Josef Wissarionowitsch Dshugaschwili alias Stalin. Auch der Tyrann selbst liebte die Dichtkunst. Ein Werk mochte er besonders, »Der Ritter im Tigerfell« von Schota Rustaweli, entstanden um 1200. »Einst war König in Arabien Rostewan, ein hochgeweihter, / huldvoll edler Fürst, beflügelt von der Heermacht seiner Streiter.« Klar, der Tyrann aus dem 20. Jahrhundert sah sich selbst in der Figur des Fürsten. »Mild, gerecht, voll Großmut war er, seinem Staat ein kluger Leiter.« Stalin liebte die Dichtkunst, doch die Dichter liebte er weniger: Er ließ sie einsperren, foltern, verbannen, viele starben auf seinen Befehl hin.
Der Diktator selbst starb 1953. Noch bis 1970 wurden seine Gedichte gedruckt – als Werk eines anonymen Romantikers. Wie schrieb Jewgeni Jewtuschenko? Man solle die Wachen am Grab des Stählernen verdoppeln, »damit Stalin nicht aufsteht, und die Vergangenheit mit ihm«.
Baghdati, 220 Kilometer östlich von Tbilissi. Ein Holzhaus am Wald, Dielen knarren. In einem Zimmer ein Schreibtisch, Bücher, Holzproben, der Mieter war Förster. In einem anderen Zimmer ein Bett, eine Nähmaschine der Marke »Singer«. Und daneben die Wiege, in der er im Juli 1893 geboren wurde: der wildeste Lyriker der Revolution von 1917. Wladimir Majakowski. »Auf! Steine, Messer, Bomben geschnappt, / ihr Flaneure und rasch herüber!« Der Mann war eine Naturgewalt – unzähmbar, berau- schend, gefährlich. »Hat einer von euch beide Arme ab, / benutze er als Rammbock die Rübe!«
Ein Mann mit schütterer grauer Mähne geht durch Majakowskis Heim, auch er ein Poet, Saal Ebanoidse, er hat lange hier gearbeitet. Und wenn man Glück hat, reißt er plötzlich die Arme hoch und beginnt, des Meisters Poeme zu deklamieren. »Wir lassen / heute / mit einem Schlagring / den Schädel der Welt zerbersten!«
Ebanoidse lädt ein in seine Datscha. Ein Steinhaus am Fluss, ohne Wasser, ohne Strom, aber mit dem Echo vergangener Gelage. Ein großer Raum, ein Tisch. Darauf Bücher, Manuskripte, Gläser. Und Teller mit Brot, Käse, Tomaten, Paprika, die Früchte fett von der Sonne. Ebanoidse schenkt Wein in die Wassergläser, dann sagt er: »Majakowski steht vor mir wie eine Wand.« Und: »Wer sich in die Literatur begibt, verschwindet in ihr wie ein Verschollener im Krieg.« Wladimir Majakowski blieb auch nach der Revolution von 1917 überzeugt von der neuen linken Lehre. Als er zu zweifeln begann, hat er sich erschossen.
Die Tour wird zur Geisterfahrt – entlang der Ruinen des Sozialismus. Marode Neubauten. Und Straßen voller Trichter. In der Steppe stehen tote Fabriken, alle zwanzig Kilometer ein Komplex mit Hammer und Sichel. Auf den Wänden sind alte Inschriften aus einer vergangenen Zeit zu lesen: Ruhm der Arbeit! Man sieht Wandbilder unterm Staub von dreißig Jahren: Arbeiter, Frauen, Blumen, alles sehr heiter. Die Bilder feiern den Aufbruch ins Morgen; ihr Optimismus ist erstarrt zu einer grässlichen Pose.
Irgendwann, tief im Kaukasus, sind es nur noch 44 Kilometer bis ins höchste Dorf Europas. Sie kosten vier Stunden. Buckel, Löcher, Rinnen, Bäche, manchmal liegt ein Felsen im Weg. Das Ziel heißt Uschguli. Uschguli – 2100 Meter über Null – ist ein schmutziger Garten Eden. Schnappschüsse: Der Fluss Enguri in seiner Schlucht. Bauern hinterm Holzpflug. Dreißig Wehrtürme, zum Teil über tausend Jahre alt; der Ort ist Weltkulturerbe. Weiter: Kühe und Kot, Schweine und Schlamm auf allen Wegen. Geduckte Häuser, Ruinen. Aber dahinter leuchtet der Schnee am höchsten Berg Georgiens, dem 5200 Meter hohen Schchara.
Quartier im Haus der Familie Ratiani, bei Dato und seiner Mutter Ciala, sie ist über siebzig. Schosta Rustaweli kommt einem in den Sinn, ein Aphorismus: »Was man verschenkt, hat man gewonnen. Was man versteckt, hat man verloren.« Es gibt gut zu essen: Auberginen und grüne Tomaten mit Walnusspaste. Chinkali und Chatschapuri –Teigtaschen und dünnes Weißbrot, mit Käse gefüllt. Dann trinken wir Traubenschnaps, Tschatscha, derweil im Herd das Feuer brennt, und Dato bringt Trinkspruch auf Trinkspruch: »Auf die, die nicht mehr unter uns weilen. Auf die Werte, an die jeder von uns glaubt!«
»Er ist ein guter Sohn«, meint Mutter Ciala plötzlich. »Er hat geholfen, viele Frauen zu entführen.« Bücher sind selten in Uschguli, so tief im Gebirge, und Dichter verirren sich kaum hierher. Literatur gibt es dennoch: in mündlicher Form. Und einmal, sagt Ciala Ratiani, einmal ... »Einmal war Jewtuschenko hier.« Jewgeni Jewtuschenko, der Poet, der Stadien füllte? »Das war im Juli 1976. Er hat auch hier geschlafen.« Und er schrieb, sagt Ciala, ein Gedicht auf den hausgemachten Mazoni, den kräftigen Joghurt der Region: »Mazoni, den ich in Uschguli probierte. Mazoni, Mazoni ...« Du wirst das Gedicht suchen, du wirst es nicht finden; es bleibt Fragment aus der Erinnerung. »Ein schöner Mann war er, dieser Jewtuschenko«, sagt Ciala Ratiani. »Er kam damals mit einem englischen Freund. Am nächsten Tag stellte sich heraus: Der Freund war eine junge Frau.«
Rückfahrt über rumpelnde Pisten, 500 Kilometer bis Tbilissi. Nur nicht so schnell! Hör dich noch etwas um, schau hin, rede mit den Leuten, sage ich mir. In Georgien liegen die Geschichten am Wegrand. Man muss sie nur aufheben.
Die Bilder feiern den Aufbruch ins Morgen; ihr Optimismus ist erstarrt zu einer grässlichen Pose.