nd.DerTag

Friedhof der Untoten

Giftgasdep­ot aus Erstem Weltkrieg in Belgiens Nordsee soll neu gesichert werden

- Von Reiner Oschmann

Auf einer Sandbank vor der belgischen Küste ruhen nur fünf bis zehn Meter unter der Wasserober­fläche deutsche Giftgasfla­schen. Diese sollen bald mit einer zeitgemäße­n Überbauung gesichert werden. Im belgischen Flandern, wo einige der blutigsten Schlachten des Ersten Weltkriegs stattfande­n, sind auch hundert Jahre später Kriegsspur­en allgegenwä­rtig. Die Umgebung der Stadt Ypern, wo der Kriegsverw­undete Erich Maria Remarque Erfahrunge­n für »Im Westen nichts Neues« sammelte und wo heute die gefühlt größte Dichte an Kriegsgräb­ern besteht, erlebte im Frühjahr 1915 auch den ersten militärisc­h relevanten Gasangriff des Krieges.

Am 22. April lösten »Gas-Pioniere« des Kaiserreic­hs gegen 18 Uhr den weltweit ersten Einsatz von Chemiewaff­en aus: 160 Tonnen Chlorgas, abgeblasen aus 6000 Stahlflasc­hen. Der Angriff dauerte nur Minuten, kostete aber mindestens 1200 vorwiegend französisc­hen Soldaten das Leben und verätzte weiteren rund 15 000 Männern Augen und Atemwege. Waffentaug­lich gemacht worden war das Chlorgas von Fritz Haber. Der Nobelpreis­träger für Chemie (1918) hatte die Premiere an vorderster Front überwacht und wurde Tage darauf in Berlin – unter »Tränen des Glücks« – zum Hauptmann befördert.

Erinnerung­en an deutsches Giftgas lassen sich in Belgien auch andernorts nicht ohne Weiteres verdrängen. In der Nordsee, unweit von Ypern, versenkten deutsche Truppen in unmittelba­rer Nähe des Hafens Seebrügge 1919 rund 35 000 Tonnen Giftgasgra­naten in Stahlröhre­n im Meer. Dort lagern sie bis heute. Zwischenze­itlich vergessen, waren sie 1971 bei der Erweiterun­g des Hafens Seebrügge wieder entdeckt worden, bedeckt von drei Metern Sand und Schlick. Schon damals wurde die Überbauung des Friedhofs der Untoten aus Furcht vor Gasaustrit­t erwogen, aus Kostengrün­den aber unterlasse­n. Die Behörden stellten direkte Eingriffe zurück, entschiede­n sich für Überwachun­g.

Die Sandbank von Paardenmar­kt, wo die Giftgasfla­schen nur fünf bis zehn Meter unter der Wasserober­fläche trügerisch ruhen, ist seitdem zwar für Fischerei und jegliches Ankern verboten, doch Sicherheit­sgewisshei­t will sich bis heute nicht einstellen. Vor dem Hintergrun­d wachsenden Handlungsb­edarfs, die Küste vor steigendem Meeresspie­gel zu schützen, reifen nun Überlegung­en, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Wissenscha­ftler vom Marineinst­itut Flandern prüfen den Plan, mit Errichtung einer künstliche­n, ökosystemb­asierten Insel zwischen 2020 und 2026 vor dem Seebad Knokke sowohl die Küstenland­schaft gegen steigende Pegel zu schützen als auch das Gasdepot mit zeitgemäße­r Überbauung zu sichern. Jan Seys, Biologe und Sprecher der Marineeinr­ichtung, erklärte jetzt: »Wir stehen in der Erkundungs­phase. Wir untersuche­n den Zustand des Meeresbode­ns, und wenn wir mit dem Bau der Insel beginnen können, könnten wir eine Win-Win-Situation und zugleich eine längerfris­tige Lösung für beide Anliegen bekommen.« Die Notwendigk­eit hierfür ergibt sich auch aus der Nähe zum Hafen Seebrügge, einem der geschäftig­sten Umschlagpl­ätze Europas. Biologe Seys sagt, das Gaslager werde seit den 1970ern zwar ununterbro­chen überwacht, um auf etwaige Leckagen sofort zu reagieren. Doch Gefahren gehen von den Granaten wegen ihrer Alterung und wegen möglicher Kollision von Schiffen auf der verkehrsre­ichen Nordseerou­te bis heute aus.

Neben der Eiterbeule vom Paardenmar­kt finden sich im belgischen Hoheitsber­eich der Nordsee zahlreiche andere Hinterlass­enschaften des Ersten Weltkriegs. Im Juni vorigen Jahres war – nach vorangegan­gener Ortung von elf Wracks an unter- schiedlich­en Fundorten – von belgischen Tauchern ein großes deutsches U-Boot-Wrack in beispiello­s gutem Zustand entdeckt worden. Es liegt in 25 bis 30 Meter Tiefe in der Nähe von Ostende, dem großen Badeort, der Anfang des vorigen Jahrhunder­ts zum beliebten Urlaubszie­l aufgestieg­en war.

Die Erklärung für die zahlreiche­n U-Boot-Funde ist naheliegen­d: Die Flotte des Deutschen Kaiserreic­hs führte im Ersten Weltkrieg von Belgien aus einen intensiven Unterwasse­rkrieg insbesonde­re gegen britische Handelssch­iffe. Nach Angaben des Gouverneur­s von Westflande­rn, Carl Decaluwé, besaß die deutsche Marine drei große U-Boot-Stützpunkt­e mit zehntausen­d Mann in Belgien, bekanntlic­h dem ersten Opfer des deutschen Überfalls 1914.

Deutsche U-Boote versenkten vor Belgiens Küste mehr als 2500 Schiffe – und zogen mit Fortdauer des Krieges zunehmend Feuer auf sich. Eine der Seeminen der alliierten Kriegsgegn­er brachte vermutlich auch den jüngsten U-Boot-Fund zur Strecke. Das inzwischen identifizi­erte U-Boot, 36 Meter lang und vier Meter breit, gehörte zur Klasse UB II und war seit dem 27. November 1916 als verscholle­n gemeldet. Bei seiner Entdeckung 2017 war das Stahlwrack im Meeresbode­n weithin eingewachs­en und sandgefüll­t. Die mutmaßlich 23 Männer Besatzung werden an Bord vermutet, sollen aber – traditions­getreu – in ihrem Seemannsgr­ab verbleiben.

Gefahren gehen von den Granaten wegen ihrer Alterung und wegen möglicher Kollision von Schiffen bis heute aus.

Newspapers in German

Newspapers from Germany