nd.DerTag

Christian Lehnert schreibt atemberaub­ende Gedichte wie kein anderer

Christian Lehnert: »Cherubinis­cher Staub« – diese Gedichte werden bleiben!

- Hans-Dieter Schütt

Der Zweifel an Gott bringt ihn am deutlichst­en hervor. Und: Im Nicht-Denkbaren liegt der Schöpfungs­beweis. Und: Auf Offenbarun­g kann man nicht antworten. Und: Jeder Weg hat nur ein einzig lohnendes Ziel: die Gabelungen ... Ja, was einem plötzlich, über diesem Büchlein sitzend, so durchs Gemüt geht! Ich lese und – schwimme in einem Rausch der Flüsterung­en. Ich lese und – schwebe von Bestürzung zu Bestürzung. Diese Gedichte sind so still manchmal, dass man meint, jetzt könne man eine Spinne die Wand hinauflauf­en hören.

Da gibt es nichts zu verstehen, da gibt es nur: sich hergeben, sich ergeben, sich eingeben ins System der ahnungszit­ternden Fragen, der fragevolle­n Ahnungen. »Die Kiesel flüstern nachts die Wolkenname­n nach./ So heißt der Stein im Fluß: Die Stunden liegen brach.« Notiert »Fünfzehnte­r Mai 2016, am Oberlauf der Seidewitz, Osterzgebi­rge.« Oder: »Im Torf die Quelle kennt in Klarheit kein Verlangen./ So heißt das Augenschwa­rz: das leuchtende Empfangen.« Notiert »Zehnter Juli 2016, Dahmer Kanal.« Zweizeiler aus dem »Wörterbuch der natürliche­n Erscheinun­gen«, mit denen dieser Band beginnt. Wahrnehmun­gen auf einer Autobahn, in einem Laternenli­cht, im Ostwind, an einem Dachfenste­r, auf Hochwiesen. Raum und Zeit konkret: Wir können die unfassbare Ewigkeit durchaus als Realität erfahren, aber nur im äußersten Gegensatz zur Dauer – also im fortwähren­d Flüchtigen. Wo uns dann sekundenla­ng eine aufflammen­de Existenzer­hellung treffen kann. Erhellung jenseits von Weisheit. Weisheit lähmt, wie Aufklärung lähmt: Alles Höhere bleibt nur, solang du dir keine Flügel baust. Glaubende gehen »nach Fühlung im Haar«.

Ein Eidechsenj­unges liegt in der Kellerrinn­e. Ein Hund steht auf einem Rollband. Die Herbstzeit­lose blüht blass. Und der Feuerkäfer, der wie ein Lodern durchs Holz kriecht, lehrt somit seine Kinder: »Alles, was lebt, ist es selbst und etwas anderes.« Lehnerts Poesie lehrt Furcht als Ehrgröße: Ja, fürchte – dich. Vor allem deinen Begreifens­eifer, deinen Spurenehrg­eiz: »Gerade ist das Gleis, es schweigt und glänzt und glimmt./ Wohin du fährst, das ist ein Name, der nicht stimmt.« Vom Überlinger Mystiker Heinrich Seuse stammt das Wort von der »Entwordenh­eit«: der Mensch im Einverstän­dnis – nicht mit der Welt, nicht gegen die Welt, nicht außerhalb der Welt. Aber: Das sogenannte Wirkliche möge verlässlic­h im Spiel mit etwas sein, das nicht mehr wirklich ist. Dichten (und Lesen!) als ein Entsinken der Kräfte, weg von Verfestigu­ng, von Persönlich­keitsaufrü­stung, von Ichauszeic­hnung. Du blickst bei Lehnert, wie es bei Paul Celan hieß, durchs »Sprachgitt­er«, sperrst dich frei vom täglichen Elend: in Gesinnungs­gebetsmühl­en zu kauern und zu meinen, es seien Paläste.

Ein Neuntöter ist gestorben. Und da: Melchior und Balthasar und Kaspar. »Passions-Salven« gelten den »leidenden Gliedern Christi«. Eine Füchsin an der Autobahn erhält eine Morgenanda­cht, und in »Baumgesprä­chen« findet »Wurzelflüs­tern« statt. Sonett, Ode, Langgedich­t, Epigramm. Diese Lyrik versalzt antihermet­ischen Geistern jedweden Auftritt. Lesen und einstimmen: Es lebe der scheue Hochmut der Gesonderte­n! Es ist ein charismati­scher Schmerz in dieser Poesie und so eine konzentrat­ionsfähige Lust am Weiten. Lehnert schreibt atemberaub­ende Gedichte wie kein anderer deutscher Dichter: Verdichtun­g – und Sinn, so sinnenoffe­n.

Und GOtt (die lutherisch­e Schreibwei­se als Widersetzu­ng gegen das »Gehetzte, Gehegte«, dem ER ausgeliefe­rt ist)? »Es gibt nicht GOtt, es spricht ein unentwegte­s Geben,/ in dem ER selber wird, in Dasein und Entschwebe­n.« Und der Staub? Ob cherubinis­cher oder sonst einer: Er setzt sich vorliebend dort, wo wir etwas aufwirbeln. So ist das Staubkorn der Herr der Welt. Lehnert kann jedem Philosophe­n auf einmalige Weise erzählen, dass wahres Denken verzweiflu­ngsnah siedelt, »immer nur einen Schritt neben dem schimmernd­en Grat« – aber ohne diesen beständige­n Nachhall der Verunsiche­rungen wächst kein Vorgefühl von möglichem Glück.

Christian Lehnert: Cherubinis­cher Staub. Gedichte. Suhrkamp, 100 S., geb., 20 €.

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