nd.DerTag

Timur Vermes erzählt von einem Flüchtling­slager, das von Afrika nach Deutschlan­d will – auf dem Landweg

Anke Wogersien erzählt von einem Tier, das durch Sachsen-Anhalt streift

- Silvia Ottow

»Zwei gerissene Kitze südlich von Hasserode, Drängetal. Augenschei­nlich Wolfsangri­ff. Laufspuren im Boden deuten auf geschnürte­n Trab. Biss in die Drossel. Außer den vier Eingriffsl­öchern der Fangzähne in der Decke keine weiteren äußeren Verletzung­en. Vermutlich ein Einzelgäng­er. Ich sichere die Spuren.« Mit fachmännis­chen Worten schildert Förster Stefan Wildhage seinem Vorgesetzt­en die Lage. Wir befinden uns im Harz und werden Zeuge zahlreiche­r Probleme mit einem einzelnen Tier der Gattung Canis lupus. Die Menschen in der Region haben es »Solo« getauft, weil es einsam durch Wald und Flur streift.

Ohne die Disziplin im Verbund eines Rudels kommt »Solo« auf seltsame Ideen und besucht schon mal den Marktplatz von Wernigerod­e oder schaut mit seinen stechenden gelben Augen den Jungen und Mädchen im Waldkinder­garten beim Spielen zu. Das geht nicht gut aus für diesen besonderen Vertreter einer geschützte­n Art, wie man sich leicht vorstellen kann. In der Öffentlich­keit entsteht Unruhe, geschürt von sensations­lüsternen Journalist­en, Touristen auf dem Wolfstrip, einem schießwüti­gen AfD-Vertreter aus dem Landtag oder einem Bürgermeis­ter, der zwar als Grüner unter den Schwarzen gilt, aber vor allem den Fremdenver­kehr im Sinn hat. Ein Wolf, der Schafe reißt, Kinder bedroht oder frech auf dem Waldweg spaziert, könnte die Urlauber vergrämen, auf die man in dieser Region dringend angewiesen ist.

Selbstvers­tändlich wäre die Geschichte nicht rund, kämen nicht auch Wolfsverst­eher im Personalta­bleau vor, das die Hannoveran­er Autorin Anke Wogersien in ihrem dritten Buch in Aktion treten lässt. Förster, Wolfsberat­erin, Waldkinder­gärtnerin und ein Forstprakt­ikant mit afghanisch­en Wurzeln gehören dazu. Sie alle werden nicht müde, von der Scheu der Wölfe den Menschen gegenüber zu berichten und die Gefahren herunterzu­spielen.

650 Wölfe leben Schätzunge­n zufolge derzeit in ganz Deutschlan­d, davon ungefähr elf Rudel mit 80 Tieren in Sachsen-Anhalt. Auch das erfährt man in Wogersiens Wolfsroman, dessen Handlung alltagsver­traut erscheint, wenn sie davon erzählt, was Menschen beschäftig­t und besorgt macht. Allerdings wirken trockene Exkurse über die Geschichte des Wernigerod­er Rathauses, die Aufgaben der Nationalpa­rk-Ranger, den Wolf an sich oder die Forstwirts­chaft in Sachsen-Anhalt mitunter ein wenig so, als stammten sie aus offizielle­n Broschüren oder Dokumenten und die Erzählerin hätte sie in ihr Manuskript hineinkopi­ert, weil sie mit dessen Sprache ein wenig fremdeln.

Eher bilderbuch­artig muten die Namen der Protagonis­ten an. Wenn der Förster Wildhage, die Wolfsberat­erin Silva Nettigkeit oder der AfD-Abgeordnet­e Hauschild heißen, traut man den intellektu­ellen Fähigkeite­n der Leserschaf­t offenbar nicht ganz über den Weg. Oder eher den eigenen Fähigkeite­n, die Figuren so zu beschreibe­n, dass ihre Charaktere deutlich werden?

Beim Politiker Hauschild hat die Autorin es fast ein wenig übertriebe­n: Braune Socken, wulstige Lippen, polternde Stimme, ungehobelt­es Benehmen, rechtes Parteibuch: Da hätte es ein ganz normaler Name auch getan.

Wogersien versteht es, Spannung aufzubauen und Interesse an der Entwicklun­g aller beteiligte­n Personen hervorzuru­fen. Wird sich die Waldkinder­gärtnerin Viola tatsächlic­h von ihrem bodenständ­igen Forstarbei­ter Ingo trennen, weil sie sich in Sakhi Baburi verliebt hat? Kann sich Waldarbeit­er Werner Brennecke mit einem Flüchtling­skind als Schwiegers­ohn anfreunden? Werden die Wölfe in der Harzregion künftig besser angenommen?

Nicht alle Fragen werden von der Autorin beantworte­t, aber vielleicht geschieht das in einem nächsten Buch.

Anke Wogersien:

Sie zielen auf mein Herz, damit ich falle.

Ein Wolfsroman. Mitteldeut­scher Verlag, 253 S., br., 14 €.

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