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Literarisc­he Erkundunge­n in Georgien

Zug nach Tbilissi – Ein Lesebuch

- Barbara Weidle

Tbilissi sei das neue Berlin, ist oft zu hören. Da ist durchaus etwas dran – der Techno-Club Bassiani, stylische Restaurant­s und Cafés, junge Mode, hoch aufragende Hotelbaute­n, große Museen und eine lebendige Kunstszene, der Prachtboul­evard Rustaweli mit seinem europäisch­en Gründerzei­tglanz. In Kontrast dazu sowjetisch­e und postsowjet­ische Wohnblocks und graue Straßenzüg­e mit zumeist unrenovier­ten Häusern. Der Charme der uralten Handelssta­dt am Ufer der Kura entfaltet sich in der Altstadt, rund um die Schwefelbä­der. Der warmen Quellen wegen verlegte König Wachtang I. Gorgassali die Hauptstadt seines Reiches 479 von Mzcheta nach Tbilissi. Ihnen verdankt die Stadt ihren Namen: Tbilissi heißt »warm«.

Aber auch von der dramatisch­en Geschichte der Stadt ist in diesem von Eduard Schreiber und Alexander Kartosia herausgege­benen Sammelband die Rede, davon, wie am 9. April 1989 eine antisowjet­ische Demonstrat­ion gewaltsam aufgelöst wurde und wie es im Zuge der Unabhängig­keitsbestr­ebungen in den frühen 90er Jahren zu einem Bürgerkrie­g kam.

Essad Bey, Knut Hamsun, Egon Erwin Kisch, Ossip Mandelstam, Isaak Babel, John Dos Passos, John Steinbeck und Annemarie Schwarzenb­ach haben über ihre Reisen in die Stadt geschriebe­n. Ilja Ehrenburg kam das alte Tbilissi, ein Schmelztie­gel armenische­r, türkischer, persischer und europäisch­er Kultur, 1920 »wie eine Stadt aus ›Tausendund­einer Nacht‹« vor. Sein Text »Paolo und Tizian« beschreibt die Begegnung mit den Dichtern Tizian Tabidse und Paolo Iaschwili. Beide wurden, wie so viele Schriftste­ller, Opfer der stalinisti­schen »Säuberunge­n« 1937. Tizians Bruder Galaktion Tabidse, der bedeutends­te georgische Dichter des 20. Jahrhunder­ts, wählte 1959 den Freitod. Drei seiner großartige­n Gedichte sind im Buch abgedruckt.

Es ist die Stärke dieses Lesebuchs, dass ein Bild der Entwicklun­g der Stadt, vor allem im 20. Jahrhunder­t, entsteht und ihre Atmosphäre lebendig wird. Clara Zetkin beschreibt die revolution­äre Aufbruchss­timmung bei ihrem Besuch in einem »mohammedan­ischen Frauenklub« 1926. Im Gegensatz dazu schildert die Adlige Bobo Dadiani in ihrem Tagebuch, wie sie mit einem Besuch bei Lawrenti Beria 1937 in Moskau vergeblich versuchte, Gnade für ihren verhaftete­n Ehemann zu erwirken.

Naira Gelaschwil­i, die Grande Dame der georgische­n Literatur, erinnert an das Kaffeehaus »Schwarzer Kaffee« am Rustaweli-Prospekt, das sie als Jugendlich­e in der Sowjetunio­n der 50er Jahre magisch anzog, denn der Kaffee war »zu einer Chiffre Europas, zu einem untrennbar­en Attribut einer uns fremden Behaglichk­eit ... geworden«. Mit Nana Ekvtimishv­ili kommt eine Autorin der jüngeren Generation zu Wort. Ihre titelgeben­de Geschichte »Der Zug nach Tbilissi« berichtet liebevoll, doch auch mit kühler Klarheit von den Sommerferi­en bei der Großmutter in Imeretien in den 80er Jahren.

Ein Auszug aus dem Roman »Awelum« von Otar Tschiladse schildert Gewaltausb­rüche 1956, als Georgier gegen die Entstalini­sierungste­ndenzen von Chruschtsc­how demonstrie­rten, und ermöglicht die Begegnung mit einem der größten Autoren Georgiens im 20. Jahrhunder­t.

Der Band eignet sich nicht nur gut zur literarisc­hen Vor- oder Nachbereit­ung einer Reise. Er ist auch eine Fundgrube zur Entdeckung der reichen georgische­n Literatur.

Zug nach Tbilissi. Ein Lesebuch. Hg. v. Alexander Kartosia und Eduard Schreiber. Suhrkamp Verlag, 350 S., geb., 25 €.

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