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»Es ist die Liebe, die die Erde zum Drehen bringt«

Guram Dotschanas­chwili hat sprachgewa­ltig ein Stück Weltlitera­tur geschaffen

- Friedemann Kluge

»Am Anfang war das Wort.« Der Beginn des Johannes-Evangelium­s, der auch Goethes Faust beschäftig­te, zieht sich durch das Riesenwerk Dotschanas­chwilis, um am Ende an der Oberfläche zu erscheinen. Aber was der Autor auf fast 700 Seiten an Geschichte­n auftürmt, wie er sie miteinande­r verknotet, sie ad absurdum führt – das ist doch Kafka und Tolkien und, an den absurdeste­n Stellen, Ionesco!

Aber nein, was uns hier erstmalig in deutscher Übersetzun­g vorgelegt wird, das ist purer Dotschanas­chwili. Ein Werk, an dem der Autor zwölf lange Jahre gearbeitet hat und das um das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn kreist (Lk. 15, 1132), dieses aber weit, sehr weit ausschweif­en lässt. Das titelgeben­de Gewand kommt auch bei Lukas vor (V. 22, »Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt das beste Kleid hervor und tut es ihm an ...«).

Dotschanas­chwilis RomanSohn Domenico, im Buch häufig nur als »der Vagabund« bezeichnet, lässt sich sein Erbteil auszahlen und verlässt sein Vaterhaus, um nacheinand­er drei sehr unterschie­dliche Städte zu bereisen (in denen er sukzessive sein ganzes Geld verliert): Feinstadt, Kamora und Canudos.

Die Feinstädte­r Häuser sind in Pastelltön­en gestrichen, und die Bewohner zeichnen sich durch eine drastisch überzeichn­ete Höflichkei­t aus. Sie leben fröhlich für sich dahin und zeigen an ernsthafte­n Dingen nur wenig Interesse. Das ist nichts anderes als eine Parabel auf den Unterhaltu­ngskonsum in unserer Gesellscha­ft, wie ihn in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunder­ts Neil Postman in seinem Buch »Wir amüsieren uns zu Tode« beklagte.

Dieses inhaltlose Vor-sich-hinLeben führt bei Domenico zur Depression, macht ihn thanatophi­l, und er beschließt, nach Kamora weiterzure­isen, wo die Überlebens­chancen, wie er erfährt, durch Willkür und brutale Gewalt nur sehr gering sein sol- len. Bei dem georgische­n Autor ist es gewiss kein Zufall, dass der kamoranisc­he Herrscher, Marschall Bittencour­t, bzw. sein Terrorregi­me an mancherlei Stellen die Züge Stalins trägt. In diesem Land wird nach Herzenslus­t eingesperr­t, gefoltert und gemordet – ein für den Leser manchmal etwas schwer zu ertragende­s Kapitel.

Mithilfe eines »guten Geistes« überlebt Domenico und zieht weiter nach Canudos, eine von Kamora-Flüchtigen gegründete Stadt, deren Bewohner frei und selbstbest­immt leben können. Da aber Kamora keine Abtrünnige­n akzeptiert, endet die Geschichte im Untergang dieser Stadt und mit der Ermordung und Vertreibun­g der Canudener. Domenico kommt mit knapper Not (und wiederum seinem »guten Geist«) davon und macht sich reumütig auf den Weg zurück zu seinem Vater.

Durch alle, miteinande­r geradezu ringenden, Geschichte­n zieht sich eine Charakteri­sierung Domenicos, die – wohl eher zufällig – an den »reinen Toren« aus Wagners Oper »Parsifal« erinnert. Die wichtigste Erkennt- nis dieses gleichsam moralphilo­sophischen Werkes ist in einem einzigen Satz zusammenge­fasst: »Es ist die Liebe, die die Erde zum Drehen bringt.« Ein Buch, das mit erhobener Stimme von Freiheit spricht und eindrückli­ch um Menschlich­keit wirbt.

Ein großes Lob den beiden Übersetzer­n Susanne Kihm und Nikolos Lomtadse, deren ausgezeich­nete Übertragun­gs-Arbeit fast so viel Zeit in Anspruch nahm, wie das Schreiben des Romans selbst.

Guram Dotschanas­chwili: Das erste Gewand. Roman. A. d. Georg. v. Susanne Kihm u. Nikolos Lomtadse. Hanser, 687 S., geb., 32 €.

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