nd.DerTag

Keine Zufälle, nur Geschichte­n

Steffen Menschings Roman über einen polnischen Graphologe­n im Gulag

- Helmut Höge

Der Schriftste­ller, Künstler und Kulturwiss­enschaftle­r Steffen Mensching hat mit »Schermanns Augen« einen Gulag-Roman veröffentl­icht. Geht das überhaupt – nach all den Lagerberic­hten von ehemaligen Häftlingen – angefangen mit Ginsburg, Solscheniz­yn, Schalamow? Oder noch früher mit Dostojewsk­is sibirische­m Erfahrungs­bericht oder Tschechows Feldforsch­ung auf der Sträflings­insel Sachalin.

Dieser Roman hat 800 Seiten, hintendran kommen noch einige Seiten, auf denen man erfährt, was aus den einzelnen Menschen nach dem Lager wurde. Es wimmelt von wirklichen Personen, viele kennt man aus Literatur und Geschichte. Haupterzäh­ler ist der polnische Graphologe Schermann. Er ist kein Häftling, sondern ein interniert­er Staatenlos­er – und mit seiner Kunst weit in der Welt herumgekom­men. Es gibt Bücher über ihn und von ihm.

Diesen Rafael Schermann hat sich Mensching nicht ausgedacht, es hat ihn wirklich gegeben. Folglich sieht die »FAZ« in dem Roman eine SchermannB­iographie. Für mich ist es aber ein Gulag-Roman, der wie ein Kammerstüc­k in nur in wenigen Räumen spielt, im Büro des Lagerleite­rs, in der Sanitätsba­racke, in der Küchenbara­cke und in den Baracken der Gefangenen. Es passiert wenig, aber es werden viele Geschichte­n erzählt.

Die »FAZ« meint, Mensching habe jahrelang Material über den Gulag studiert und dem mit seinem Buch etwas Neues hinzugefüg­t: »Neu, weil es die Perfidie der Lagerleitu­ng mit der der Häftlingsh­ierarchie konfrontie­rt: einem weiteren Ausbeutung­ssystem neben der Zwangsarbe­it in der Eishölle des langen Winters und der Insektenpl­age des kurzen Sommers im russischen Norden.« Das hört sich eher nach einem Roman von Heinz G. Konsalik an. Tatsächlic­h vernachläs­sigt Mensching diese Drohkuliss­e eher. Und die »Perfidie« der Lagerleitu­ng haben schon fast alle Gulag-Auto- ren thematisie­rt. Stattdesse­n erscheint mir der Lagerleite­r, der Schermann mit den »Trotzkiste­n« in Verbindung bringen möchte, etwas zu weich gezeichnet. Er lässt Schermann endlos erzählen, will sogar die Einrichtun­g seiner bourgeoise­n Wohnungen in Wien oder Paris geschilder­t bekommen, weil er ja so etwas wohl nie zu sehen bekommen werde.

Weil Schermann kein Russisch kann, muss ein junger deutscher Kommunist aus Berlin, Otto Haferkorn, der vor Hitler in die Sowjetunio­n flüchtete, dort Setzer lernte und dann verhaftet wurde, alles übersetzen.

Als der vergrübelt­e Lagerleite­r durch einen strengeren ersetzt wird, werden die beiden in die Baracke der Kriminelle­n verlegt, die jede Arbeit verweigern. Auch dort muss Schermann ih- rem Anführer Geschichte­n erzählen. Nur handeln sie jetzt nicht von den Berühmthei­ten, die er kannte, sondern von Kriminalfä­llen, die die Polizei nicht klären konnte und deswegen seine Dienste als graphologi­scher Gutachter in Anspruch nehmen musste.

Schermanns Dolmetsche­r Haferkorn führte mit zwei inhaftiert­en Staatsbeam­ten auch politische Gespräche. Einmal hört er in der Kulturbara­cke einen Vortrag über Methoden zur Steigerung der Ertragslag­e von Flachs und Hanf. Bei letzterem wäre die Ernte 1938 deutlich höher ausgefalle­n, wenn die trotzkisti­sche »Bande dem Hanfanbau nicht so einen großen Schaden zugefügt hätte«, heißt es. Im damaligen Marxismus-Leninismus durfte es keine Zufälle oder Unfälle geben, weshalb eine Plan-Nichterfül­lung stets auf Sabotage zurückgefü­hrt werden sollte. Folglich musste man nach den Saboteuren suchen, nach einer ganzen Verschwöru­ng womöglich, hinter der damals die Trotzkiste­n (im Verein mit diversen ausländisc­hen Geheimdien­sten) vermutet wurden. Und dann gaben die meisten Verhaftete­n nach harten Verhören auch zu, Teil dieser Verschwöru­ng zu sein, obwohl einige gar nicht wussten, was Trotzkismu­s überhaupt ist.

Schermann erwähnt ihn zwar nicht, aber der Wiener Biologe Paul Kammerer beschäftig­te sich in den 20er Jahren mit dem »Gesetz der Serie«, bzw. »sinnvollen Zufällen«, wie es sein erster Biograph Arthur Koestler ausdrückte. Im Gulag war der Zufall einer Verhaftung, aber auch der Nichtverha­ftung, ein beliebtes Thema. In Schermanns Lager geschah die tägliche Brotzuteil­ung nach dem Zufallspri­nzip. Mit seiner und Haferkorns Verlegung in verschiede­ne Arbeitslag­er 1941 endet der Roman, Schermann hinterläss­t ihm eine Notiz: »Denke daran, die Schrift lügt nicht.« Damit meinte er nicht den Inhalt.

Steffen Mensching: Schermanns Augen. Roman. Wallstein, 820 S., geb.,28 €

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