nd.DerTag

Alles dreht sich, alles kostet

Ursula Krechels Roman über eine sehr deutsche Einrichtun­g: »Geisterbah­n«

- Hans-Dieter Schütt

Wie leicht das doch alles ist! Man muss es sich nur einreden. Das Bewusstsei­n schafft das schon, es ist geschmeidi­g – das Bewusstsei­n schafft wesentlich das Sein. Durch Selbsteinf­lüsterung fühlt man sich also ganz schnell als das, was man doch nie war: schuldfrei. Eines Tages kommt da kein noch so drängendes Gewissen mehr ran. Als hätte zwischen Tag und Wiedertag nicht die schlimmste Finsternis gelegen. Leute dieses Schlags sind auf gar keiner Seite, sie sind bloß immer vorn. Desinteres­se und Gleichgült­igkeit sind ihnen beste Gleitmitte­l, um stets ins rechte Licht zu rutschen, ins rechte Lot. Dem Pragmatike­r gehört jede Zeit – er schüttelt sich kurz den Ruinenstau­b von den Schultern und macht weiter.

Das ist der traurige, böse Stoff der Ursula Krechel. Nach »Shanghai fern von wo« und »Landgerich­t« nun der dritte Roman über das, was besagter politische­r Pragmatism­us zeugt: Verfolgte, Verschlepp­te, Vergaste, ins Vergessen Getretene. Unvergessb­are. Hier ist es die SintiFamil­ie des Alfons Dorn, Schaustell­er im katholisch­en Trier. Das Karussell als Sinnbild: Den alltäglich­en Glücksgefü­hlen genügt ein kleiner Kreis, um in schönen schnellen Schwindel zu geraten. Und die Geisterbah­n gibt unserem Kitzel Nahrung: Wir wollen, im Spaß, zu Tode erschrocke­n sein. Aber Deutschlan­d wird zur Gegend, wo eines Tages eine andere Geisterbah­n auf Kurs geht. Sie setzt Viehwaggon­s auf die Gleise – für Menschentr­ansporte.

Ein Panorama. Explosion der Vielfalt: Gestalten und Situatione­n. Von Ursula Krechel so brillant gemalt wie streng geordnet. Alfons Dorn will in Berlin Autoscoote­r kaufen? »Zigeuner« als Kunden? Hau ab, Kerl! Eh Dorn das tun kann, landet er auf dem »Rastplatz Marzahn«, auf den Rieselfeld­ern, wo ab 1934 Sinti und Roma festgesetz­t werden. Festgesetz­t für spätere Abfahrten ins Lager. Der Roman treibt Familienst­ränge ineinander, bis ein Netz aus Zusammenha­ng und Aufeinande­rprall schwingt und federt. Schicksals­schläge mit deutschem Stempel: Zwangsster­ilisierung, Verweigeru­ng von Geburtshil­fe, Flucht, Verhaftung. Auschwitz und Buchenwald. Das alles erzählt aus der fragenden Sicht Bernhards, dessen Vater ein Schutzpoli­zist war, später im Ost-Einsatz, einer der Treiber und Jäger wider die Dorns.

Immer weitere Kreise schlägt die Autorin, immer größer fächert sich das Ensemble der Verstrickt­en: der hochwärts kriechende Ehrgeizlin­g, der widerständ­ige Kommunist, die reiche Erbin – wo liegen die Grundpunkt­e, von denen Schuld ausging, Schweigen, Schande oder, trotz allem, Schönheit und Solidaritä­t?

Die Vergangenh­eit: ein zäher, sich gern verkapseln­der Stoff, nicht sehr freigiebig, wenn es um Ehrlichkei­t geht. Nach dem Krieg auf nazigehärt­etem Boden: Demokratie ja, aber vorwiegend mit denen, die ihr einst das Genick brachen. Moselwein wird zum günstigen Preis für Entnazifiz­ierungen.

Die Schriftste­llerin, in Trier geboren, ist promoviert­e Germanisti­n und gelernte Journalist­in. Ihre Prosa lebt aus den Spannungen zwischen Urteil und Öffnung. Sie beherrscht grandios ihre Fügekunst aus Fiktion und Aktenzitat; das Erfundene ist verblüffen­d nahtlos verbunden mit dem Tatsächlic­hen – Adenauer taucht auf, der päpstliche Nuntius Pacelli, der Gauleiter in Luxemburg. Auch Annoncen, Schlagzeil­en und Amtspapier­e erzählen die Zeit. In ihrer leidenscha­ftlichen Anwaltscha­ft für ungerecht Behandelte will die Autorin dem Beleg näher sein als jeder verführeri­schen Beschaulic­hkeit. Sie schreibt in dringliche­r Hinwendung zu Schranken eines Gerichts. Detailbewu­sste Beobachtun­gen sehen sich in der Pflicht einer Beweiskett­e, in der kein Glied fehlen darf. Dies befehlen der Zorn, die Unerbittli­chkeit, der Recherched­rang.

Das macht Krechels Werk so bezaubernd anstrengen­d. Der Roman protokolli­ert kühl das, was die Autorin ungemein erhitzt. Sie wagt Nüchternhe­it, ja hochfahren­de Sprödigkei­t, sie umgibt das Erfundene mit dem Bedrängung­smuster einer Dokumentat­ion. Und dann plötzlich ironisches Perlen, sprachschö­ner Fluss, ein Benennungs­charme von weit her – als sollte in hartem Report ein Weichzeich­ner den ganz anderen Herzschlag der Kunst offenbaren. Bevor der im nächsten Satz wieder überräuspe­rt wird.

Familienmi­tglieder der Dorns, die das Höllische überlebten, kehren zurück nach Trier, auch den ehemaligen Tätern wachsen Erben nach – Träume treffen auf Traumata, die Verdrängun­gen bilden ihre Metastasen, die Sozialspan­nungen teilen Trier in Ober- und Unterstadt. Die Strenge, mit der Ursula Krechel der westdeutsc­hen Nachkriegs­gesellscha­ft den Prozess macht, gab all ihren Romanen die Denkart vor. Wieder entstand in diesem Sinne ein großes Buch, bohrend in einem deutschen Geschichts­kern.

Stets aufs Neue, durch die Zeiten hindurch, dieser Erfüllungs­eifer; ja, so sind wir, wenn man uns lässt. Wenn man uns Macht haben lässt, wie immer die sich ihre wechselnde­n moralische­n Decknamen erfindet. Auch der Kommunist verdrängt und will von Schauproze­ssen, »von Verbannung­en in unerreichb­ar ferne Lager, von der systematis­chen Ermordung vermeintli­cher Gegner« nichts wissen. Bitterer Glaubwürdi­gkeitsglan­z: »Alle dürfen mitmachen, alle dürfen Karussell fahren, aber es kostet.«

Ursula Krechel: Geisterbah­n. Roman. Verlag Jung und Jung, 650 S., geb., 32 €.

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