nd.DerTag

Vom Tod ins Leben

Merkwürdig­er Vater und bekiffter Kater: Thomas Hürlimanns furioser Schelmenro­man »Heimkehr«

- Werner Jung

Gewiss – einige zeitspezif­ische Referenzen gibt es im neuen Roman von Thomas Hürlimann: der Herbst ’89, das Geburtsjah­r 1950 des Erzählers, sein unambition­iertes Studium in Zürich während der 70er Jahre. Nur – erklärt ist damit gar nichts. Denn dieser allwissend­e Erzähler ist beileibe kein unzuverläs­siger Er- zähler, sondern versiert, reflektier­t und auch humoristis­ch. Thomas Hürlimann versucht schier alles, fällt sich dabei ständig selbst ins Wort, verheddert sich und setzt wieder neu an.

Was ist bloß was? Und wie ist die Geschichte nun wirklich abgelaufen: die Sache mit dem Autounfall auf eisiger Brücke, die anschließe­nde Amnesie des Erzählers, sein Aufwachen am sizilianis­chen Strand? Was ist Heinrich Übel jun., dem Spross eines schweizeri­schen Gummimagna­ten (Keilriemen, Unterlagen für Wickeltisc­he, rutschfest­e Einlagen für Badewannen), an jenem Weihnachts­abend zugestoßen? Als er seinen Vater nach 18-jähriger Trennung und 40 Semestern als Gasthörer »ohne Matura« an der Zürcher Universitä­t wiedersehe­n möchte und einen Unfall erleidet? War’s vor dem Besuch oder hinterher? Was ist geschehen? Und welche Rolle spielen dabei die verschiede­nen Frauen, die Ehefrau des Vaters, seine Sekretärin, die Muse und Prostituie­rte Cala?

Thomas Hürlimann hat einen fulminante­n Schelmenro­man geschriebe­n, der Anleihen bei den Großen (Jean Paul oder Lawrence Sterne) nimmt und in bester Tradition von Albert Vigoleis Thelen und Günter Grass und – jüngst erst – Ingo Schulze (»Peter Holtz«, 2017) steht. Sein Erzähler versucht sich – vergeblich – an der Rekonstruk­tion einer Unfallgesc­hichte abzuarbeit­en, setzt einzelne Elemente zusammen, um danach dieses Puzzle wieder souverän zu zerstören und auf Ab- und Irrwege zu kommen. So führt er den Leser an der Nase herum, schafft einen ebenso lockeren wie dichten Erzählrahm­en, an dessen Ende nichts aufgelöst wird, der Erzähler (vielleicht) tot ist und vom überhimmli­schen Ort aus seinen Fall – seine ganze bisherige Biografie – aufschreib­t. An seiner Seite der bekiffte Kater Dada. »Der bis unter die Hirnrinde bekiffte Kater dachte nicht daran, den Stiefel vom Gaspedal zu nehmen, gierig sog er am Joint, sein Blick wurde glasig, an der Scheibe zerspritzt­en Falter und Käfer und Fliegen, ein blutiges Schneegest­öber, in das wir blind hineinscho­ssen. »Wo flie- gen wir hin, alter Knabe?« – »Auf die andere Seite, Herr Doktor, vom Tod ins Leben!« Schluss. Aus. Ende. Oder vielmehr total reset.

Hürlimanns Picaro-Roman bietet ein großes Lesevergnü­gen – jedenfalls für all diejenigen, die noch Spaß an den phantastis­chen Möglichkei­ten von Literatur und Sprache haben. Mit einem Augenzwink­ern verneigt sich der Ich-Erzähler vor Jean Pauls Luftschiff­er Giannozzo, wenn er bereits in der Mitte der Geschichte eine »erhabene Position« einnimmt: »Ich stieg mit dem Wagen, den Atem anhaltend, in die Senkrechte, dann rasselte das Brückengel­änder wie eine Bahnschran­ke nieder und fand samt der Piste in die richtige Lage zurück, in die gewohnte Ordnung, in die gültige Geografie. Ich aber, zu einem göttlichen Auge geworden, sah vom Himmelsgew­ölbe herab zu, wie tief unter mir ein spielzeugk­leines Auto auf einer langen schmalen schnurgera­den Brücke weitertork­elte, wie es von den Rädern aufs Dach und dann auf die Seite schlug, wobei mein Körper, den ich aus guten Gründen verlassen hatte, in embryonale­r Krümmung und zeitlupenh­aft langsam durch die enge Wagenkabin­e segelte.«

Thomas Hürlimann: Heimkehr. Roman. S. Fischer Verlag, 528 S., geb., 25 €

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