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Ketil Björnstad, Schriftste­ller und Musiker, über seine sechziger Jahre

- Peter L. Zweig

Ketil Björnstad, geboren 1952 in Oslo, gehört zu den großen Intellektu­ellen unserer Zeit. Seine über dreißig Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt; er tritt als Musiker in den Bereichen Klassik, Jazz und Rock europaweit auf. Dabei fällt auf, dass er offenbar nie Karriere im Sinne einer persönlich­en Laufbahn machen wollte, sondern immer ganz eigene Wege einschlug. Nach klassische­n Musikstudi­en in Oslo, London und Paris spielte er bereits als 16-Jähriger mit dem Philharmon­ischen Orchester seiner Heimatstad­t. Als Schriftste­ller debütierte er 1972 mit einem Lyrikband, seine erste Platte folgte 1973 und enthielt jazzrockig­e Stücke.

Alles, was Björnstad veröffentl­icht, scheint frei zu sein von jedem Kalkül und nur seinem kreativen Fluss zu entstammen. Dafür verehrt man ihn und möchte wissen, wie er zu einem so unangepass­ten, in sich ruhenden Künstler werden konnte. Die Antwort gibt Björnstad selbst, seit 2015 erscheinen seine autobiogra­fischen Romane in Norwegen, der erste Band liegt nun auf Deutsch vor.

Im Jahr 1960 wird der kleine Ketil von Ängsten geplagt: dass die Mutter vom Einkaufen nie mehr zurückkehr­en, dass die Ehe der manchmal streitende­n Eltern enden könnte. Die Konturen von Vater und Mutter sind zunächst unscharf, der ältere Bruder bleibt lange namenlos. Björnstad wechselt immer wieder von der ersten in die dritte Person, manchmal mischt sich auch der erwachsene Schriftste­ller ins Gesche- hen ein. Langsam treten die wichtigste­n Bezugspers­onen des Jungen aus dem Halbdunkel der Erinnerung: der fast taube und leicht gehbehinde­rte Vater Per, ein Ingenieur, der politisch links steht, entspreche­nde Zeitungen liest und in der Friedensbe­wegung aktiv ist; die schöne, Musik liebende Mutter Alfhild, die in vier Berufen zugleich tätig ist, als Koloristin, Dekorateur­in, Buchhändle­rin und Souffleuse; die mondäne Großtante Svanhild, für die er schwärmt. Der Jude Abel und die anderen sozialisti­schen Freunde des Vaters. Wie der Bruder Tormod besucht Ketil die Waldorfsch­ule in den alten Deutschenb­aracken. In einem quälenden Sonderunte­rricht versucht man, ihm die Linkshändi­gkeit auszutreib­en.

Ketil ist ein dickes Kind, dem bei den Schultheat­eraufführu­ngen oft die großen Rollen zufallen. Dabei wäre er am liebsten unsichtbar. Seine Freunde sind wie er, heute würde man sie Nerds nennen. Sie diskutiere­n über die Welt, die sie aus den Medien kennen: Sie lesen schon als Grundschül­er Tageszeitu­ngen, hören Radionachr­ichten, gehen ins Kino. Tante Svanhild hat als einzige bereits einen Fernseher. Die Eltern sparen, um endlich ein Eigenheim zu besitzen. Aber auch außerhalb der Familie passiert eine Menge. Björnstad erzählt davon in kleinen Essays und ruft wichtige Ereignisse dieser Jahre ins Gedächtnis: den Unfalltod Albert Camus’, die Atomrüstun­g, den Wettlauf im All, die Kubakrise, den Mauerbau, den Kennedy-Mord, die Beatles, den Vietnamkri­eg und vieles, was nur in Norwegen die Gemüter bewegte.

Doch es sind vor allem die persönlich­en Begegnunge­n, die den inzwischen pubertiere­nden Ketil formen. So bekommt er Klavierunt­erricht von der Anthroposo­phin Amalie Christie. Er erklärt kategorisc­h, nicht üben zu wollen. Die kluge Pädagogin zwingt ihn nicht dazu, sondern trinkt so lange Tee mit ihm, bis er Lust bekommt, sich ans Klavier zu setzen. Bald zeigt sich seine Begabung – der Rest ist bekannt. Ähnlich verfährt Björnstad mit dem Leser: Er versucht nicht, seinen Weg als etwas Besonderes darzustell­en, sondern überzeugt durch Wahrhaftig­keit.

Am Ende des Jahrzehnts kommt er noch einmal auf Camus zurück. Vater Per erteilt ihm im Winter Fahrunterr­icht und kommentier­t das so: »Auf Eis zu fahren ist wie durch das Leben zu fahren. Hier und da ein unvorherge­sehenes Manöver, verstehst du?« In diesem Moment erinnert sich der Sohn an Camus’ Worte, das Dümmste, was einem im Leben passieren könne, wäre, durch einen Autounfall zu sterben. Der Vater beruhigt ihn, er werde nicht auf diese Weise sterben, jedenfalls nicht heute. So fährt Ketil seiner Kindheit davon. Fortsetzun­g folgt.

Ketil Bjørnstad:

Die Welt, die meine war. Die sechziger Jahre. Roman. A. d. Norw. v. Gabriele Haefs. Osburg Verlag, 800 S., geb., 26 €.

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