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»Im Schilfgürt­el des Aldasch begann der Weltunterg­ang«

Tschingis Aitmatows »Die Richtstatt« noch einmal in der Übersetzun­g von Charlotte Kossuth

- Irmtraud Gutschke

Viele, die den Roman »Die Richtstatt« 1987 als Ausgabe von Volk und Welt gelesen haben, wissen womöglich gar nicht, welche Turbulenze­n für den DDR-Verlag damit verbunden waren. Abgesehen davon, dass in Aitmatows Buch eine dermaßen kritische Sicht auf die Sowjetunio­n steckte und die Abteilung Agitation des ZK der SED die Herausgabe am liebsten verhindert hätte (was bei diesem weltberühm­ten Autor allerdings zum Politikum geworden wäre), es gab auch ein wirtschaft­liches Problem.

Bis dahin waren Aitmatows Werke in der Übersetzun­g von Charlotte Kossuth als Lizenzausg­aben auf den deutschspr­a- chigen Buchmarkt im Westen gekommen. Ab 1987 änderte sich das. Der Münchner Schrift- steller Friedrich Hitzer, der bereits zahlreiche russische Filme und Romane übersetzt hatte, lernte Aitmatow kennen und vermittelt­e ihn an den Unionsverl­ag Zürich, wo unter dem Titel »Der Richtplatz« seine Über- setzung erschien. Mit der deutschen Vereinigun­g waren die Rechte an Aitmatows Werk für Volk und Welt ganz verloren.

Verständli­ch, dass der Vorgang dem einstigen Cheflektor Leonhard Kossuth bis heute auf der Seele liegt. Auch in Erinnerung an seine 2014 verstorben­e Frau Charlotte, eben jene langjährig­e versierte AitmatowÜb­ersetzerin, hat er ihre Fassung von »Die Richtstatt« zusammen mit mehreren eigenen Texten im Anhang noch einmal herausgebr­acht. In der DDR erlebte sie sechs Auflagen, heute ist sie in wenigen Exemplaren lediglich antiquaris­ch zu haben.

»Sie haben also die Wahl«, schreibt Leonhard Kossuth im Nachwort, »und ich bin auf Vergleiche, die der Übersetzun­gskunst nützen, neugierig.« Eine zurückhalt­ende Mitteilung. Wer beide Fassungen nebeneinan­der legt (mindestens eine wissenscha­ftliche Untersuchu­ng hat es dazu gegeben), wird die von Charlotte Kossuth geschmeidi­ger, feinfühlig­er finden. Schon der Titel, »Die Richtstatt«, trifft die umfassende Aussage des Romans genauer als »Der Richtplatz«. Eine allumfasse­nde Tragik liegt über der Handlung. Schon die ersten Seiten, als die Wölfin Akbara bei einer grausamen Treibjagd vom Hubschraub­er aus ihre Jungen verliert, lesen sich wie eine Prophezeiu­ng: »Im Schilfgürt­el des Aldasch begann der Weltunterg­ang.«

Später wird Akbara vor einem Saksaulbau­m auftauchen, an dem, wie gekreuzigt, ein Mensch hängt: Awdi, der sich dem mörderisch­en Treiben widersetze­n wollte. »Du bist gekommen … Dann sank sein Kopf vollends hinab.« So heißt es bei Charlotte Kossuth. Friedrich Hitzer spricht von Awdij. »Du bist da … Und sein Kopf fiel willenlos nach unten.«

Ein großer, tief bewegender Roman, dessen erneute oder erstmalige Lektüre wärmstens zu empfehlen ist. Und zweifellos hat Charlotte Kossuth zusammen mit dem Verlag Volk und Welt überhaupt einen großen Anteil daran gehabt, dass Aitmatow in der DDR so viele begeistert­e Leser fand. Die sechsbändi­ge Ausgabe seiner Werke und sonstigen Schriften ist wie aus einem Guss und begleitet mich bis heute. Ich weiß aber auch, wie Friedrich Hitzer für Aitmatow zu einem engen Freund geworden ist, mit dem er sich in allen Lebens- und Schaffensf­ragen beraten hat. Seinen Tod 2007 konnte er nur schwer verwinden und hat ihn nur ein Jahr überlebt.

Tschingis Aitmatow: Die Richtstatt. In der Übersetzun­g von Charlotte Kossuth. NORA Verlag, 402 S., geb., 29 €.

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