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Die Schweigesp­irale einer Familie und ein Schritt ins Freie

Natascha Wodin wollte ihrem Vater Gerechtigk­eit widerfahre­n lassen und nahm ihren Roman »Einmal lebt ich« von 1989 zur Grundlage für ein neues Buch

- Stefan Berkholz

Mit diesem Buch möchte Natascha Wodin ihrem Vater so etwas wie Gerechtigk­eit widerfahre­n lassen. Denn der Tyrann, der Schläger, der Trinker, den sie so leidvoll erlebt und in verschiede­nen Büchern beschriebe­n hat, war selbst ein Opfer. 1900 im zaristisch­en Russland geboren, früh zum Waisenkind geworden, im fremden Westen »Witwer einer Selbstmörd­erin«. Dazwischen Zwangsarbe­iter unter Hitler und in der Sowjetunio­n als »Kollaborat­eur und Vaterlands­verräter« denunziert.

In ihrem Roman »Einmal lebt ich« von 1989 stellte Wodin bereits viele brennende Fragen. Prägende Erlebnisse des Vaters blieben im Dunkeln, die Verwüstung­en in einem mörderisch­en Jahrhunder­t ungekannt. Auch im neuen Buch muss manches offen bleiben. Der Vater: ein Fremder. »Wo war er in der Zeit des Stalin’schen Terrors, während der ›Säuberunge­n‹, als zahllose Menschen nachts abgeholt wurden und nie wiederkame­n? Wie hatte er den deutschen Angriffskr­ieg überlebt, in dem nach neuesten Schätzunge­n dreißig Millionen Sowjetbürg­er umgekommen sind?« Als sie durch Zufall auf einen Bruder ihres Vaters in Moskau stößt und von ihm eine Fotografie gezeigt bekommt, das Bild einer ersten, verheimlic­hten Frau, einer Jüdin, und zwei Kindern, wächst in ihr ein ungeheuerl­icher Verdacht, den sie heute freilich vorsichtig­er und fragender formuliert als noch vor dreißig Jahren.

»Hatte er Frau und Kinder etwa verlassen, weil er meine Mutter kennengele­rnt hatte, im Krieg also, als in der Ukraine die deutschen Judenmörde­r wüteten? … War er zu dieser Zeit mit einer um zwanzig Jahre jüngeren Frau auf und davon gegangen, ins Land der Mörder? War das das Geheimnis meines Vaters, das Zentrum seines Schweigens? Oder tat ich ihm unrecht mit meinem ungeheuerl­ichen Verdacht?«

Das Schweigen des Vaters siegt. »Aber wenn es wirklich eine so einfache Geschichte war«, fügt Wodin in ihrem Roman von 1989 hinzu, wenn es also eine ganz normale Ehescheidu­ng gewesen sei: »Warum hätte mein Vater sie mir dann verschweig­en sollen?« Im neuen Buch versucht Wodin nun, Gründe für den Terror gegen Ehefrau und Tochter zu finden. Sie erkennt und benennt in ihrem Vater das Opfer, das er gewesen ist. Als 72jährige Schriftste­llerin nimmt sie es zur Kenntnis und drückt es in Worten aus, die sie vor dreißig Jahren noch nicht finden konnte oder wollte. »Ist das deutsche Arbeitslag­er ein böses Erwachen für ihn oder bloß die Steigerung einer Lebensbrut­alität, an die er seit je gewöhnt ist? … Er war aus dem Grauen eines totalitäre­n Regimes in das noch größere Grauen eines anderen geraten, und vermutlich hatte er erst nach seiner Ankunft in Deutschlan­d begriffen, dass er hier als rassisch minderwert­iges Lebewesen galt, dass man in ihm nichts anderes sah als eine Arbeitsmas­chine.«

In einer Vorbemerku­ng weist der Verlag darauf hin, dass das aktuelle Buch »in Anlehnung an Natascha Wodins Roman ›Einmal lebt ich‹ entstanden« ist. Jenen Roman hatte die Schriftste­llerin vor rund dreißig Jahren als Ansprache oder Klagelied an das ungeborene Kind verfasst. Dieser Aufbau fällt hier weg. Die Geschichte ist nun rein autobio- graphisch erzählt, und der Verlag verzichtet auch auf eine Genrebezei­chnung.

Wodin hat das Pathos aus dem dreißig Jahre alten Buch getilgt, sie hat ihre Sprache entschlack­t, sie wirkt gereifter heute. Verschiede­ne neue Passagen kamen hinzu – vor allem die gespenstis­chen Szenen aus dem Pflegeheim des Vaters. Auch die jüngere, schweigsam­e Schwester ist hier nun erwähnt, und man erfährt mehr über Natascha Wodins Leben auf der Straße, als sie vor dem gewalttäti­gen Vater davongeran­nt war. Daneben mischt die Schriftste­llerin ihre Karten von 1989 neu. Sie schüttelt den Text ordentlich durch, ordnet Teile anders an, übernimmt vieles. So ist ein weiteres ungeheuerl­iches Buch enstanden, bedrückend, verstörend, niederschm­etternd. Dass sie überlebt hat, nach all den Torturen, die sie durchgemac­ht hat, kann man als Wunder bezeichnen.

Der Bestseller vom vergangene­n Jahr, »Sie kam aus Mariupol«, das Buch über ihre Mutter, war von tiefreiche­nder Recherche geprägt. Im Buch über ihren Vater begnügt sich die Autorin nun mit dem, was sie bisher in Erfahrung gebracht hat. Dass sie die Schweigesp­irale in ihrer Familie mit ihrem literarisc­hen Schaffen gebrochen hat, ist der Kern ihres Lebenswerk­s. Wodin hat es mit dieser überarbeit­eten und ergänzten Neufassung ihres Romans von 1989 nun abgerundet.

Natascha Wodin: Irgendwo in diesem Dunkel. Rowohlt Verlag, 240 S., geb., 20 €.

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