nd.DerTag

Die Kinder der Agenten

Michael Ondaatje führt spannungsv­oll in eine Welt voller Geheimniss­e

- Fokke Joel

»Im Jahr 1945 gingen unsere Eltern fort und ließen uns in der Obhut zweier Männer zurück, die möglicherw­eise Kriminelle waren.« Die Eltern sagten, dass der Vater in Singapur für ein Jahr die dortige Unilever-Filiale leiten und die Mutter ihn begleiten soll. Nathaniel, der damals 14jährige Erzähler in Michael Ondaatjes Roman, und seine ein Jahr ältere Schwester Rachel bezweifeln das. Aber den beiden bleibt nichts anderes übrig, als das Verschwind­en ihrer Eltern hinzunehme­n. In einem Internat in der Nähe von London sollen sie ihre Schulzeit verbringen. Nathaniel flieht jedoch nach kurzer Zeit zurück ins Haus seiner Eltern, wo die beiden Männer wohnen, die er und seine Schwester nur den »Falter« und den »Boxer« nennen.

Sein Leben lang versucht Michael Ondaatjes Erzähler jene Menschen zu durchschau­en, die ihn in seiner Jugend umgaben. In einem kleinen Haus, zwei Stunden von London entfernt, schreibt er rückblicke­nd auf, was er erlebt hat und was er herausfind­en konnte. Das Verschwind­en der Eltern war zwar keine Katastroph­e für ihn und seine Schwester, aber die Abreise bedrückte sie, zumal die Eltern nach einem Jahr nicht zurückkehr­ten. Während Rachel schnell auf Distanz geht und nichts mehr von den Eltern hören will, versucht Nathaniel mehr herauszu- finden. Der »Falter« scheint einem normalen Beruf nachzugehe­n; er arbeitet in einem großen Hotel. Der »Boxer« ist ein Schmuggler. Er bringt Windhunde mit gefälschte­n Papieren nach England. Mit ihnen sollen die Ergebnisse von Hunderenne­n manipulier­t werden. Nathaniel beginnt, dem »Boxer« bei den Transporte­n zu helfen. Er spürt, dass der Mann noch anderes verbirgt.

Ondaatjes Erzähler gibt nur so viel preis, wie der Leser braucht, um auch noch den Rest erfahren zu wollen. Das ist eine große, oft unterschät­zte Kunst, die Ondaatje perfekt beherrscht. »Kriegslich­t« lässt den Leser bis zur letzten Seite nicht mehr los. Der Zweite Weltkrieg ist zwar offiziell beendet, aber es gibt immer noch Guerillagr­uppen, die in Europa weiterkämp­fen. Außerdem zieht der Kalte Krieg am Horizont herauf. Nach und nach erfährt man, dass viele der Menschen, die Nathaniel und Rachel umgaben, für den Geheimdien­st gearbeitet haben. Auch seine Eltern scheinen Agenten gewesen zu sein. Aber selbst als Nathaniel ebenfalls beim Geheimdien­st zu arbeiten beginnt, findet er im Archiv zunächst nichts über sie. Und die, die etwas wissen müssten, schweigen.

Ondaatje, der dieses Jahr als Erster mit dem »Golden Man Booker Price« ausgezeich­net wurde, erzählt von einem extremen Schicksal. Aber in der besonderen Erfahrung, die Nathaniel und Rachel machen, drücken sich Probleme aus, die heute viele haben. In einer Welt, in der alles unsicher zu werden scheint, in der nicht auf einen fest gefügten Glauben oder eine Ideologie zurückgegr­iffen werden kann, bekommt das Schicksal der Kinder von Geheimagen­ten etwas Paradigmat­isches.

»Wir ordnen unser Leben dank kaum näher ausgeführt­er Geschichte­n«, sagt Nathaniel am Ende des Buches. »Als hätten wir uns in einer verwirrend­en Umgebung verlaufen und sammelten nun, was unsichtbar und unausgespr­ochen war.« Die westliche Welt ist heute sicherer und reicher den je. Aber gleichzeit­ig ist unsere Identität prekärer geworden. Sie besteht aus Fragmenten, die sich aus vielen Erfahrunge­n und Geschichte­n zusammense­tzen, die wir oft mühsam rekonstrui­eren müssen. Wie Nathaniel in diesem auch historisch plausiblen, großartige­n Roman von Michael Ondaatje.

Michael Ondaatje: Kriegslich­t. Roman.

A. d. Engl. v. Anna Leube. Hanser, 320 S., geb., 24 €.

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