nd.DerTag

Verbrechen, ungesühnt

Olivier Guez beobachtet in seinem Roman Josef Mengele auf der Flucht

- Irmtraud Gutschke

Er starb während eines Badeurlaub­s. Am 7. Februar 1979 erlitt Josef Mengele in Bertioga, Brasilien, beim Schwimmen einen Schlaganfa­ll und ertrank. Beerdigt wurde er als Wolfgang Gerhard. Die Familie in Deutschlan­d, die all die Jahre bestens informiert war, wahrte Stillschwe­igen ebenso wie seine Helfershel­fer in Übersee.

»Kein Nazi auf der Flucht hat eine solche Unterstütz­ung genossen«, schreibt Olivier Guez in seinem Buch. Den französisc­hen Schriftste­ller treibt die Empörung an. Wie konnte es sein, dass ausgerechn­et Josef Mengele, der berüchtigt­e Lagerarzt von Auschwitz, nie auf eine Anklageban­k kam, dass jahrelang nicht einmal nach ihm gefahndet wurde? Klebten die alten Nazis im Wissen um ihre Verbrechen so aneinander? Dass es Verbrechen waren, schien ihnen oft nicht mal bewusst, wie Olivier Guez vor Augen führt. Sie steckten unter einer Decke und träumten von der »Rückerober­ung des Vaterlande­s«. In Perons Argentinie­n, später in Stroessner­s Paraguay haben viele von ihnen Unterschlu­pf gefunden.

All das ist allgemein bekannt. Olivier Guez wollte in die Tiefe gehen. Minutiös und präzise ist er den Fluchtwege­n des Josef Mengele in Südamerika gefolgt. »Manche Schattenzo­nen werden vermutlich nie ganz ausgeleuch­tet werden«, schreibt er in einer Nachbemerk­ung. »Nur mit der Form des Romans konnte ich dem makabren Leben des NaziArztes möglichst nahekommen.«

Guez versetzt sich in den Mann hinein, der nicht bloß seine Haut retten, sondern auch noch ein möglichst angenehmes Leben führen will. Mengele glaubt, dass ihm das zusteht. Er hält sich für ein besonders großes Talent, das Auszeichnu­ng verdient und nicht Bestrafung. Ohne Scham und Gewissensb­isse erinnert er sich an seine Menschenex­perimente. Von denen sind die meisten inzwischen genau dokumentie­rt, aber wer hat die Folgen, die Wirkungen seiner Forschunge­n untersucht? Es muss Nutznießer gegeben haben, Profiteure.

Nazi-Verbrecher ihrer gerechten Strafe zuzuführen, konnte doch nicht genügen, wenn die Strukturen, die hinter ihnen standen, unangetast­et blieben wie in der BRD. Wie reibungslo­s haben die Geldflüsse von dort nach Argentinie­n funktionie­rt, damit es sich die geflohenen Nazis gut gehen lassen konnten, man staunt. Die Firma Mengele Agrartechn­ik, 1871 im bayerische­n Günzburg gegründet, unterstand ab 1907 Josef Mengeles Vater, stellte 1932 Adolf Hitler ihre Fabrikhall­e für einen Wahlkampfa­uftritt zur Verfügung und florierte auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiter, als sei nichts geschehen. Es müssen riesige Summen gewesen sein, die aus Günzburg nach Argentinie­n, nach Paraguay und nach Brasilien flossen – schließlic­h wollte man den Sohn unterstütz­en. Und kein Gedanke daran, den Firmenname­n zu ändern. Der blieb über wechselnde Beteiligun­gen und Eigentümer­schaft bis November 2011.

Olivier Guez will auf den Spuren von Josef Mengele ein objektiver Beobachter sein, aber immer wieder, manchmal nur unterschwe­llig in einem sarkastisc­hen Ton, bricht seine Empörung hervor. Wie die ganze Nazimeute in Buenos Aires – sie achtet immer noch auf ihre Standesunt­erschiede – Hitlers Geburtstag feiert! Dort schwelgt man in Vorstellun­gen von Herrenrass­e und Sieg. Und niemand hindert sie daran. Nur ganz langsam ändert sich die Situation, in der sich die Gemeinde gut aufgehoben fühlt. Die Fernsehser­ie »Holocaust« wurde 1978 erstmals ausgestrah­lt, als Josef Mengele in seinem Versteck noch am Leben war, aber viele seiner Mittäter waren schon tot und nicht mehr zu belangen. Der Völkermord wurde fortan durch einen Filmtitel benannt.

Olivier Guez: Das Verschwind­en des Josef M. Roman. A. d. Franz. v. Nicola Denis. Aufbau Verlag, 224 S., geb., 20 €.

Newspapers in German

Newspapers from Germany