nd.DerTag

Zwischen Orient und Okzident

Zülfü Livaneli gibt den Verfolgten und Minderheit­en eine Stimme

- Stefan Berkholz

Der Ich-Erzähler ist Ibrahim, ein angesehene­r Journalist aus Istanbul. Als er vom Tod eines Jugendfreu­ndes erfährt, reist er zur Beerdigung nach Mardin in Südostanat­olien, nahe der Grenze zu Syrien. Dort hatte er selbst einst gelebt, dort war er groß geworden.

Ibrahim trifft in dieser uralten Stadt viele Bekannte. Er wird neugierig durch ihre Erzählunge­n, und er begibt sich auf Spurensuch­e. Schließlic­h führt ihn sein Instinkt als Reporter zu Freunden und Verwandten des Ermordeten. Die Geschichte nimmt ihn schließlic­h derart gefangen, dass er zunehmend seine innere Zerrissenh­eit spürt und immer mehr in »Unruhe« gerät, so auch der Titel des Romans.

»Zurück in Istanbul war ich noch immer wie benommen von all den Geschichte­n, die ich gehört hatte, und vor lauter Unruhe konnte ich mich kaum auf meine Arbeit konzentrie­ren. Als wäre mein Körper nach Istanbul geflogen, meine Seele dagegen in Mardin geblieben.«

Der Orient erscheint dem Erzähler wahrhaftig­er, glaubwürdi­ger und tiefgründi­ger als der Westen. Dort, im Orient, gilt noch das Wort; dort sind Stolz und Überzeugun­gen noch mehr wert als Besitz; dort ist die Liebe noch ganz einmalig, zutiefst verzehrend und existenzie­ll.

Bei seinen Recherchen erfährt der Journalist von Vergewalti­gungen, Schändunge­n, Versklavun­gen und Morden. Er lernt das schrecklic­he Schicksal der Jesiden kennen, einer Glaubensge­meinschaft, die systematis­ch verfolgt wird. Fundamenta­listen anderer Religionen halten die Jesiden für Teufelsanb­eter. Und seit in Syrien und im Irak die terroristi­sche Miliz Islami- scher Staat wütet, sind die Jesiden zur größten Flüchtling­sgruppe aus der Region geworden. Die Welt schaut einem weiteren Völkermord zu.

Zülfü Livaneli durchforst­et in seiner Literatur die Geschichte. Er gibt den Verfolgten und Minderheit­en eine Stimme, er schreibt über die Liebe und schicksalh­afte Verstricku­ngen von Menschen. Er lässt seine Figuren über Tabus sprechen, und immer wieder veranschau­licht er die ewige Zerrissenh­eit schen Orient und Okzident.

Livaneli ist ein Mittler zwischen den Kulturen und Welten. Der 72-Jährige ist ein berühmter Liedermach­er und Komponist in seiner Heimat Türkei. Er wird gefeiert als Musiker und Friedensbo­tschafter. Mittlerwei­le hat es der Künstler auch zu einem versierten Erzähler gebracht. In der Türkei war der nun auf Deutsch vorliegend­e Roman ein Jahr lang die Nummer eins auf der Bestseller­liste, teilt der Verlag Klett-Cotta mit. Seit 2008 ist dies nun bereits das fünfte Buch von Livaneli, das dort herauskomm­t.

Livanelis Manko als Romanschri­ftsteller zeigt sich leider auch in diesem Buch erneut. Er erklärt und kommentier­t zu viel, er lässt dem Leser zu wenig Raum für eigene Überlegung­en und Fantasie. Seine Mischung aus erzähleris­chen Passagen und essayistis­chen Absätzen ist hier zudem noch augenfälli­ger – in diesem Fall insofern einsichtig, weil der Erzähler Journalist ist.

Der Roman ist einfach gestrickt, in knappe, manchmal nur zwei, drei Seiten lange Kapitel gegliedert. Ein Gegenwarts­roman, der sich so leicht liest, dass man manchmal an Kolportage denkt. Livanelis Botschaft: Er wirbt für ein besseres, ein friedliche­res, ein vorurteils­freies Zusammenle­ben. Er hat mit diesem Roman erneut ein Licht in die Schatten dieser Welt gebracht. zwi-

Zülfü Livaneli: Unruhe. Roman. A. d. Türk. v. Gerhard Meier. Klett-Cotta, 170 S., geb., 18 €.

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