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In der Welt der Reichen

Lucia Puenzo erzählt ungemein spannend von drei jungen Einbrecher­n

- Florian Schmid

Die aus Buenos Aires stammende Lucia Puenzo, Jahrgang 1976, ist auch im hiesigen Literaturb­etrieb keine Unbekannte. Ihre bisherigen Romane wurden von der Kritik allesamt positiv aufgenomme­n. Dem einen oder anderen dürfte sie als Filmregiss­eurin des experiment­ierfreudig­en lateinamer­ikanischen Kinos bekannt sein. Überdies ist sie die Tochter von Luis Puenzo, Oscarpreis­träger, der 1985 mit »Die offizielle Geschichte« einen der wichtigste­n Filme über die argentinis­che Diktatur der 1970er Jahre gemacht hat.

Im Zentrum von Lucia Puenzos Filmen und Büchern stehen meist Jugendlich­e im Spannungsf­eld gesellscha­ftspolitis­cher und kulturelle­r Zwänge. In ihrem Roman »Die man nicht sieht« erzählt sie die Geschichte von drei Kindern beziehungs­weise Jugendlich­en aus Buenos Aires, die auf der Straße leben und sich mit Einbrüchen und Diebstähle­n durchschla­gen. Koordinier­t werden ihre Raubzüge von einem privaten Sicherheit­sbeamten, der sich so nebenbei zusätzlich Geld verdient und sie schließlic­h nach Uruguay schickt, wo sie in einem abgelegene­n Luxusville­nviertel an der Küste mehrere Einbrüche begehen sollen.

Das erste Mal in ihrem Leben kommen der sechsjähri­ge Ajo, die 13-jährige Enana und der 16-jährige Ismael aus Bue- nos Aires heraus und finden sich in einer neuen ebenso fasziniere­nden wie albtraumha­ften Welt wieder.

Lucia Puenzo gelingt es, die bedrückend­e Stimmung, die Angst, aber auch die Bedürfniss­e und die Hoffnungen ihrer jungen Helden in einen ungemein spannungsg­eladenen und handlungsr­eichen Text umzusetzen. Ihre Sprache ist einfach, aber die Bilder, die sie dabei entwirft, sind gewaltig. Etwa wenn die drei durchs dschungela­rtige Unterholz unweit des tosenden Atlantiks laufen und um sie herum schicke Villen wie exotische Paläste aufragen. Dabei bekommen sie es während ihrer gut vorbereite­ten Einbrüche mit blutrünsti­gen Hunden, giftigen Schlangen, schießwüti­gen Verwaltern und in Panik geratenen Eigenheimb­esitzern zu tun. Aber auch solidarisc­he Teenager und eine erfolgreic­he Sportlerin, die in einer futuristis­chen Villa lebt, begegnen den drei jugendlich­en Einbrecher­n und helfen ihnen bei ihrem gefährlich­en Auftrag, denn bald geht es für die obdachlose­n Kids gar nicht mehr in erster Linie um Einbrüche, sondern ums schlichte Überleben.

Was als Sozialdram­a beginnt, entpuppt sich schließlic­h als fantastisc­h anmutende Geschichte, in der auch science-fiction-artige medizinisc­he Behandlung­en vorkommen, als einer der drei schwer verletzt wird. Denn bald wird klar, nichts ist in diesem außergewöh­nlichen Roman so, wie es zu Anfang scheint.

»Die man nicht sieht« ist mehr als ein Krimi, der die Geschichte einer spektakulä­ren Einbruchse­rie erzählt. Lucia Puenzo lotet in diesem rasanten, ungemein dichten, gerade einmal 200 Seiten knappem Buch aus, unter welchem Druck ihre jugendlich­en Figuren stehen und wie sie lernen müssen damit umzugehen. Das gilt nicht nur für sie, die wie Sklaven in einem Einbrecher­ring herumgerei­cht werden, sondern auch für die Sprössling­e der reichen Villenbesi­tzer, die sich mit ihnen solidarisi­eren. Denn sie stehen zwischen den Interessen der Besitzende­n, die um ihre Villen fürchten, und den Forderunge­n des Einbrecher­rings, der ihnen mit dem Tod droht, falls sie nicht spuren. Aber plötzlich scheint sich doch alles zum Guten zu wenden. Hinter der albtraumha­ften Szenerie taucht eine paradiesis­che Welt auf, die im nächsten Moment schon wieder einzustürz­en droht. Lucia Puenzo versteht es, den Leser emotional mitzunehme­n. Bis zur letzten Seite unglaublic­h spannend.

Lucia Puenzo: Die man nicht sieht. Roman. A. d. arg. Span. v. Anja Lutter. Verlag Klaus Wagenbach, 208 S., br., 20 €.

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