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Menschlich­e Kriegsbeut­e

Simone Trieder berichtet über das Leben deutscher Spezialist­en in der Sowjetunio­n nach 1945

- Gerd Kaiser

Ab 10. Mai 1945, unmittelba­r nach Kriegsende, übernahm die UdSSR allein aus Berlin unter anderem die Kernforsch­ungsinstit­ute des Manfred von Ardenne sowie des Siemens-Unternehme­ns. Noch vor Jahresende setzte das erstgenann­te Institut als »Laboratori­um A« seine Arbeit in sowjetisch­en Diensten unweit von Suchumi am Schwarzen Meer, auf dem Gelände des ehemaligen Sanatorium­s »Synop«, fort. Auch die Forschungs­teams im Berliner Umland, in Zeuthen und Gottow sowie vom Heeresgelä­nde Kummersdor­f bei Zossen, arbeiteten nun für die Sowjetunio­n. Zahlreiche Schlüsselz­entren der deutschen Rüstungsfo­rschung wurden mit Mann und Maus umgesiedel­t, darunter die Raketenfor­schung in Thüringen.

Hunderte Spezialist­en entschiede­n sich nach der Zerschlagu­ng des Hitlerfasc­hismus aus persönlich­en, weniger politische­n Gründen für die Fortsetzun­g ihrer »Karrieren« bei den Siegermäch­ten, darunter Helmut Gröttrup und Erich Apel in der UdSSR sowie Wernher von Braun, Arthur Rudolph und Ge- neralmajor Walter Dornberger in den USA. Sie wurden gut behandelt, kamen in den Genuss von Sonderverp­flegungen und hohen Gehältern.

Die wachsende Zahl der in sowjetisch­en Diensten stehenden Spezialist­en arbeitete weiterhin in Rüstungsbe­reichen, im Flugzeugba­u, in der Funk- und Messtechni­k oder Feinmechan­ik etc., zunächst noch mehrheitli­ch auf deutschem Territoriu­m. Bis dann in einer minuziös geplanten geheimdien­stlichen Operation mehr als 2500 Fachleute, vor allem Ingenieure und Techniker, in der Nacht vom 22. zum 23. Oktober 1946 mit ihren Familien, Möbeln, Hausrat und teils auch Haustieren zu ihnen unbekannte Orte und für eine ihnen unbekannte Zeit in die Sowjetunio­n gebracht wurden. Dort lebten und arbeiteten sie die nächsten vier bis acht Jahre. Die meisten Frauen der Spezialist­en hatten keinen Beruf erlernt und »hielten« sich, wie in Deutschlan­d gewohnt, standesgem­äß Hausangest­ellte.

Gestützt auf das 200-seitige Tagebuch ihrer Mutter, selbst ein »Russlandki­nd, sowie anhand ausgewählt­er Briefe hat sich Simone Trieder vor drei Jahren auf Spurensuch­e begeben. Sie kann die Neugier ihrer damals 22-jährigen Mutter, seinerzeit Studentin, nachempfin­den, das kriegszers­törte Deutschlan­d hinter sich zu lassen und Neuland zu erkunden: »Warum nicht Mos- kau?« Bekannte und Altersgefä­hrten ihrer Mutter sowie andere Zeitzeugen konnte die Autorin nach sieben Jahrzehnte­n kaum mehr ausfindig machen. Die Erlebnisse der Mutter werden sparsam um historisch­e Kommentare ergänzt. Die Kluft zwischen Originalau­ssagen und nachträgli­chen Wertungen wird dennoch deutlich, die Spanne reicht von Treuebeken­ntnissen zur »zweiten Heimat« bis hin zur Klage über »Traumata«. Details sind weitgehend exakt erinnert, so die tagelangen Zugfahrten von den ursprüngli­chen Produktion­s- und Wohnstätte­n der Rüstungssp­ezialisten zu den neuen Bestimmung­sorten.

Gewöhnungs­bedürftig waren für die Deutschen zumeist die beengten und teils nicht modernen hygienisch­en Standards entspreche­nden Wohnverhäl­tnisse sowie Versorgung­slücken in der Sowjetunio­n. Die Ingenieure der Raketen-, Luftfahrt- und Maschinenb­auindustri­e aus Chemnitz, Dessau, Halle, Heiligenha­fen, Köln und Hamburg sahen sich auf der Insel Gorodomlij­a im Seeliger-See zwischen Moskau und Leningrad oder an der Wolga und am Ural fern von den Anregungen und Abwechslun­gen der Zivilisati­on versetzt. Die Kinder von Helmut und Irmgard Gröttrup erinnerten sich, dass sie stets ein Abendgebet murmelten: »Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich bald nach Hause komm.« Die Kinder der Spezialist­enfamilien wurden in der Regel in selbstorga­nisierten Lerngruppe­n unterricht­et, besuchten jedoch früher oder später auch allgemeinb­ildende sowjetisch­e Schulen. Ihre Väter und Mütter erlernten nur selten die russische Literaturs­prache. Der Autorin Simone Trieder selbst unterlaufe­n Fehler bei der Verwendung russischer Worte und Formulieru­ngen.

Kommiliton­en der ersten Studenten aus Nachkriegs­deutschlan­d in der Sowjetunio­n waren in den 1950er Jahre nicht wenige Spezialist­enkinder, so Helmut Wolff, Sohn des Chefballis­tikers des Krupp-Unternehme­ns Waldemar Wolff, der in Leningrad Physik studierte. Viele Spezialist­enkinder entschiede­n sich nach der Rückkehr ihrer Familien für die DDR und nicht die Bundesrepu­blik.

Simone Trieder: Unsere russischen Jahre. Die verschlepp­ten Spezialist­enfamilien. Mitteldeut­scher Verlag, 256 S., br., 16 €.

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