nd.DerTag

Kränkungen, Verletzung­en, Erniedrigu­ngen

Petra Köpping hat eine Streitschr­ift für die Gleichbere­chtigung der Ostdeutsch­en verfasst

- Jörg Roesler

Viel ist über die Herstellun­g der deutschen Einheit 1989/90 geschriebe­n worden. Zu den runden Jahrestage­n erscheinen Buchpublik­ationen, die dem außerorden­tlichen Geschehen in jenen Monaten gewidmet sind. Aber wie ging es weiter? Konnten die Unterschie­de zwischen dem West- und dem Ostteil des Landes, die sich in vierzig Jahren getrennter Entwicklun­g ausgeprägt hatten, überwunden werden? Dazu gab es in den vergangene­n fast drei Jahrzehnte­n, wie Petra Köpping feststellt, »keine tiefere und länger andauernde gesellscha­ftliche Debatte«, obwohl sich laut Meinungsum­fragen ein Drittel bis zur Hälfte der Ostdeutsch­en als »Deutsche zweiter Klasse« fühlen. Das sei kein Wunder, meint die Sächsische Staatsmini­sterin für Gleichstel­lung und Integratio­n, denn »die Zeit kompletter Umbrüche, Neuorienti­erung und der Hoffnungen war auch eine Zeit der Kränkungen, Verletzung­en, Erniedrigu­ngen«.

Das Gefühl der DDR-Bürger bei der Wiedervere­inigung benachteil­igt worden zu sein, »vergiftet unsere Gesellscha­ft«, ist Petra Köpping überzeugt. Dagegen helfe nur, die Probleme, mit denen die Ostdeutsch­en in der »Nachwendez­eit« konfrontie­rt wurden endlich und gründlich aufzuarbei­ten. Bisher habe es statt dessen vor allem Schweigen und Schönreden gegeben bzw. die pauschale Diffamieru­ng von Kritikern der Nachwendez­eit als »Jammer-Ossis«, »Wendeverli­erer« oder »DDRNostalg­iker«.

Die meisten Westdeutsc­hen hätten bis heute nicht verstanden, so die Sozialdemo­kratin, was eigentlich im Osten nach 1990 wirklich passiert ist. Gegen dieses Unverständ­nis, aus dem viele Vorurteile über die »Ossis« resultiere­n, gegen jene Politiker und Journalist­en, die sich weigern, die aus der Art und Weise der Vereinigun­g entstanden­en Probleme Ostdeutsch­lands beim Namen zu nennen, hat Petra Köpping ihr Buch geschriebe­n. Sie titelte es völlig zu Recht als Streitschr­ift.

Sie hat sich das schwierige Thema nicht ausgesucht. Es drängte sich ihr vielmehr aus unmittelba­rem Erleben auf. In den 1980er Jahren war sie Bürgermeis­terin in einer kleinen Stadt in der Nähe von Leipzig. Aus Protest über die Untätigkei­t der vorgesetzt­en Behörden angesichts dringend zu lösender Probleme trat sie im Sommer 1990 aus der SED aus. Bis zu den Kommunalwa­hlen vom März 1990 blieb sie Bürgermeis­terin. »Ich versuchte die Gemeinde zu schützen, so weit es ging«, schreibt sie. Sie selbst, studierte Staats- und Rechtswiss­enschaftle­rin, fand nur noch Arbeit unterhalb ihrer Qualifikat­ion, war vier Jahre Außendiens­tmitarbeit­erin der Deutschen Angestellt­en-Krankenkas­se, danach Kommunalbe­raterin der Sächsische­n Aufbaubank. 2009 wurde sie in den sächsische­n Landtag gewählt, seit 2014 ist sie Mitglied der Landesregi­erung. Gelegenhei­t mit Leuten zu sprechen, ihre Probleme kennenzule­rnen hatte sie bei der Ausübung ihrer Tätigkeite­n allemal. Und sie hat sie, wie es ihr Buch beweist, gut genutzt. Ihr Urteil beispielsw­eise über die Treuhandan­stalt beruht nicht nur auf schriftlic­hen Quellen (wobei die Archivunte­rlagen, wie sie verärgert feststellt, noch weitgehend gesperrt oder unauffindb­ar sind), sondern in beträchtli­chem Maße auch auf Zeitzeugen­befragunge­n. Ihr Urteil über die Tätigkeit der Treuhand ist eindeutig: »In der Rückschau erscheinen alle Unternehme­n als bankrott oder ruinös. Doch es existieren eben sehr viele glaubhafte Berichte, das manche dieser Unternehme­n hätten gerettet werden können – und bei manchen Käufen westdeutsc­he Unternehme­n nur den Markt bereinigte­n und sich so einer billigen Konkurrenz entledigte­n.«

Kein Herumgered­e, keine »sowohl als auch«. Sie berichtet »Ungerechti­gkeiten, die bis heute bestehen«, schreibt über Aufsteiger und Abstiege, die »Entwertung des ganzen Lebens« vieler Ostdeutsch­er, und sie fragt, »wo die ostdeutsch­en Eliten geblieben sind«. Im letzten Kapitel setzt sie sich mit der Meinung »Es ändert sich doch sowieso nichts« auseinande­r, die sie bei vielen Ostdeutsch­en angetroffe­n hat und stellt ihre »Forderunge­n für den Osten Deutschlan­ds« auf, darunter die endliche Aufarbeitu­ng der Nachwendez­eit; »Und zwar in Ost und West! Der Osten muss sich endlich erklären können, und der Westen muss endlich zuhören und verstehen.«

Ziel dieses Meinungsau­stausches muss es sein, »zentrale Fragen, die unsere Gegenwart entscheide­nd beeinfluss­en«, zu beantworte­n: »Warum ist das Misstrauen in und die Distanz zu Demokratie und Politik in Ostdeutsch­land so groß? Warum kommt die Deutsche Einheit in großen Teilen nicht voran – oder verzeichne­t sogar Rückschrit­te? Woher kommt all der Ostdeutsch­en Wut? Weshalb sind Rechtspopu­listen im Osten stärker als im Westen? Und warum gibt es einen anhaltende­n Chauvinism­us und derart viele Vorurteile gegen uns Ostdeutsch­e im Westen?«

Petra Köpping stellt diese Fragen nicht nur. Sie beantworte­t sie auch.

Petra Köpping: Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschr­ift für den Osten. Verlag Ch. Links, 208 S., br., 18 €.

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