Drei Ausrufezeichen
Adelheid Bahr und renommierte Ko-Autoren wollen Frieden mit Russland
Es ist kein voluminöses, dafür aber um so gewichtigeres Buch. Adelheid Bahr, Witwe des Entspannungspolitikers Egon Bahr, hat eine illustre Autorenschaft vereint. Alle eint die Überzeugung, in der kriegs- und krisengeschüttelten, bedrohten Welt von heute sei eine Partnerschaft in Augenhöhe mit Russland überlebensnotwendig. Die Pädagogikprofessorin betont: »Eine neue Entspannungspolitik ist das Gebot der Stunde!!!« Drei berechtigte Ausrufezeichen.
Bevor Gleichgesinnte aus unterschiedlichen politischen Lagern zu Wort kommen, erinnert Adelheid Bahr an die Lebensleistungen ihres Mannes, an die von ihm mit Willy Brandt gegen etliche Widerstände durchgesetzte Neue Ostpolitik, die Ostverträge und die sie krönende KSZE-Konferenz. »Die Auflösung der Sowjetunion war dabei weder intendiert, noch konnte sie vorhergesehen werden«, beteuert Adelheid Bahr und lüftet ein Geheimnis Bahrscher Diplomatie: »Egon Bahr wollte seine Gesprächspartner in Moskau nicht zu Demokraten, noch wollten sie ihn zu einem Kommunisten erziehen. Ideologische Fragen wurden zur Verbesserung der Beziehungen ausgeklammert.« Und sie sind auch in diesem Buch ausgeklammert.
Eine Hommage auf den Architekten der europäischen Sicherheitspolitik, dessen letzte öffentliche Rede hier ebenfalls abgedruckt ist, verfasste die Schriftstellerin Daniela Dahn unter dem – einen allseits bekannten Spruch aus DDR-Zeiten abwandelnden – Titel: »Von Egon Bahr lernen heißt verstehen lernen«. Sie zitiert eine Studie, wonach 94 Prozent der Deutschen gute Beziehungen zu Russland für wichtig erachten. Was Politiker dieses Landes leider ignorieren. »Eine unbestrittene Autorität« nennt die Grünen-Politikerin Antje Vollmer den Sozialdemokraten Bahr. Für Sigmar Gabriel ist dessen Tutzinger Rede vor 55 Jah- ren von ermutigender Aktualität. Der Liberale Wolfgang Kubicki bestätigt: »Hätten Willy Brandt, Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher oder Egon Bahr nicht versucht, sich gedanklich in die Lage Breschnews oder Gromykos zu versetzen, wäre der ›Wandel durch Annäherung‹ ausgefallen.«
Überraschend ist, dass die Beiträge – obwohl die Autoren gewiss nicht in einem Kämmerlein gemeinsam an ihren Texten strickten und sie abstimmten – sich gedanklich aufeinander beziehen, argumentativ nahezu nahtlos ineinander greifen. So findet Kubickis Mahnung »Der Frieden in Europa ist es allemal wert, sich der Mühe des Ausgleichs zu unterziehen« logische Fortsetzung im Plädoyer des Luftwaffengenerals a. D. Harald Kujat »Mut zum Ausgleich«. An die Warnung des Ökonomen Albrecht Müller, eine ausgestreckte Hand, russische Offerten, nicht auszuschlagen, im Satz gipfelt: »Dümmer kann Politik eigentlich nicht sein«, schließt sich der Aufruf des ehemaligen brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck treffend an: »Zurück zur politischen Vernunft« Unverkennbar: Ein sorgsames, bedachtes Lektorat war hier am Werk.
»Stabile, gute Beziehungen zwischen Deutschland und Russland waren seit jeher ein friedenssichernder Faktor in Europa«, betont Peter Brandt, nicht verhehlend, dass es in der heutigen Russischen Föderation Demokratiedefizite gibt. Westliche Konfrontation würde indes autoritäre Züge und Nationalpatriotismus nur stärken. Brandts ältester Sohn fordert eine Ende der Sanktionen und eine Wiederannäherung Deutschlands an Russland, gerade angesichts der sich ob eines »etwas eigenartigen« US-Präsidenten« auflösenden tranatlantischen Wertegemeinschaft, »die nie mehr war als eine wohlfeile Phrase«. Eine paneuropäische Freihandels-, Wohlstands- und Friedenszone von Lissabon bis Wladiwostok könne helfen, die dringendsten Menschheitsprobleme zu lösen.
»Ratloses Erschrecken« empfindet Friedrich Dieckmann wegen der Eiszeit in den deutschrussischen Beziehungen. Oskar Lafontaine zitiert den US-Sicherheitsberater George Friedman, nach dem Hauptziel Washingtons sei, ein Zusammenfinden von deutscher Technologie und russischen Rohstoffe zu verhindern. »Für mich gehört zur Friedensarbeit auch, sich selbst nicht als Nabel der Welt zu begreifen«, bekennt die Publizistikprofessorin Gabriele Krone-Schmalz. In ihrem (titelgebenden) Aufsatz äußert sie Verständnis, wenn »Russen in ihrer Mehrheit Stabilität und auskömmliches Leben zunächst einmal wichtiger halten als zügige Demokratisierung«; dies sollte man in komfortabler ausgestatteten Gesellschaften respektieren. Als »Putin-Versteher« outet sich, semantische Inkorrektheit korrigierend, der Barde Konstantin Wecker. Selbst CSU-Politiker Peter Gauland unterstreicht: »Ein anderer Umgang mit Russland ist nötig.« – Ein notwendiges Buch!!! Im Sinne eines Vermächtnisses.
Adelheid Bahr (Hg.): Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen. Westend,
208 S., br., 18 €.